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  • Leser2015

476 Beiträge seit 19.11.2015

Re: Das wäre dann Platons Philosophenstaat in der Version 2.0?

Emrymer schrieb am 23.01.2023 15:52:

Vielleicht liegt die Hoffnung trotzdem in der Technik, denn mich würde inzwischen interessieren, welche Krisenbewältigungsstrategien ein lernfähiges Computerprogramm anbieten könnte. Sind dessen Ideen besser, könnte man es regieren lassen – und sich demokratische Wahlen sparen?

Hinter Platons Philosophenstaat steht ja auch die Hoffnung, daß es nur Wissende (in heutigem Sprachgebrauch: Experten) bräuchte, die fußend auf guter Sachkenntnis mit probaten Methoden zu den "richtigen" Erkenntnissen und Entscheidungen kämen, um eine "gute" Regierung darzustellen. Die Experten kann man auch durch digitale Prozesse austauschen, weiterhin bliebe die Hoffnung, daß Sachkenntnis und "richtiges Handeln" eine im Sinne der Bevölkerung "gute" Regierung ausmachen müssten.

Ich bin nicht sicher, ob das so stimmt.
Irgendwer jammert immer. Es gibt schon die These, daß die bestmögliche Entscheidung daran erkennbar ist, daß über sie wirklich alle jammern. Aber in einer Demokratie werden immer alle auch für jede Entscheidung mit haftbar gemacht, und vielleicht ist das ein "guter Trick", um den Frieden nach innen zu gewährleisten: indem man zumindest in der Theorie einen kleinen eigenen Einfluß geltend machen kann (aber nicht muß, man kann auch Nichtwähler sein), muß man sich dann (wenn auch vielleicht zähneknirschend) mit dem Ergebnis abfinden. In einem "Expertenstaat" könnte man sich theoretisch auflehnen, weil man ja nirgends mit beteiligt ist, aber mit der Entscheidung unzufrieden ist.

Zum Glück ist es völlig gefahrlos, über eine ferne Zukunft zu spekulieren, die heutige Menschen kaum mehr erleben werden, aber ich glaube, dass Platons Traum vom Philosophenstaat in etwa hundert Jahren Realität geworden sein dürfe – und zwar sogar in einer demokratischen Gestalt.

Es wird natürlich nach wie vor drei Staatsgewalten geben, doch jeweils mit KI-Bots als eigentlich Verantwortlichen überall in den Spitzenpositionen, während Menschen eine bloße Kontrollfunktion behielten – und theoretisch für Misserfolge haftbar gemacht werden könnten. Vorteil: Im Zweifel ist niemand schuld; man denke an die Pandemiepolitik, in der sich die Politik auf die Medizin als fachlich zuständige Disziplin berief, während die Medizin jede Verantwortung für die Umsetzung ständig neuer Regeln im Maßnahmenstaat ablehnte. Teilweise vielleicht ein Blick in die Zukunft.

Konkret hieße dies, in so einem künftigen Staat mit Expertise gäbe es wie heute einige wählbare politische Parteien mit Menschen in Kommunkationsfunktion für Fragen der Bevölkerung, aber an deren Spitze stünde jeweils ein KI-Bot, für dessen weltanschauliche Prägung und korrektes Funktionieren die jeweilige Partei formal die gesamte politische und vielleicht sogar juristische Verantwortung trüge.

Nach einem demokratischen Wahlerfolg bildete ein solcher Partei-KI-Bot die gesamte Regierung, also Leitung und alle Ministerien in Personalunion; Koalitionen aus mehreren Bots wären natürlich auch möglich. Es fänden ständig Backups statt und Reservehardware stünde im Schrank, falls das Original doch mal kaputtginge. Dem Ding wären Emotionen oder Krankheit so völlig fremd wie jede Korrumpierbarkeit, es hätte durch ständigen Zugang zum gesamten Menschheitswissen und riesige Speicherkapazität eine umfassende Bildung – und würde rund um die Uhr arbeiten!

In ähnlicher Weise würden im Bereich der Justiz Staatsanwaltschaften und Gerichte von KI-Bots, genau wie heute zeitlich befristet, geleitet, in denen natürlich auch menschliche Mitarbeitende zu Beratungszwecken oder als Schöffinnen und Schöffen zum Einsatz kämen, damit die Justiz ihre menschlichen Züge nicht ganz verlöre. Gerade Recht sollte der Bevölkerung vermittelbar bleiben.

Das nach wie vor menschliche Parlament der Zukunft würde alle paar Jahre von der Bevölkerung neu gewählt werden und sollte wie heute theoretisch die beiden anderen Gewalten kontrollieren.

Äußerlich könnten alle politisch geprägten KI-Bots, passend zur jeweiligen Ideologie, berühmten Persöhnlichkeiten nachempfunden sein. Bei internationalen Konferenzen wären die Maschinen weitestgehend unter sich, hätten naturgemäß ständig alle entscheidungsrelevanten Informationen präsent und niemand würde sich dort mehr aufregen. Letztlich liefe alles viel schneller, rationaler und effizienter ab, während politische Unzufriedenheit seitens der Bevölkerung mangels deren fachlicher Expertise der Vergangenheit angehörte. Und sollte sich doch einmal eine Entscheidung als falsch erweisen, dann trüge mehr als heute die gesamte polische Partei hinter deren KI-Bot formal die Verantwortung. Man wird diese Staatsform disziplinierte Demokratie nennen.

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