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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Befehl und Gehorsam

Als mittlerweile 60jähriger Hartz-IV-Empfänger blicke ich heute auf ein langes und mühevolles Arbeitsleben zurück, mit dem ich zum Wohlstand des deutschen Nationalstaates beigetragen habe – nebenbei bemerkt ein Wohlstand, der seit gut einem Jahr mit Siebenmeilenstiefeln gnadenlos vernichtet wird, und zwar zugunsten genau solcher megareicher Konzerninhaber wie des im Artikel genannten Jeff Bezos.

Ohne die zahlreichen fleißigen Hände der arbeitenden Bevölkerung hätten diese Multimilliardäre niemals ihren unvorstellbaren Reichtum zusammenraffen können. Das ist mir nicht erst vor kurzem klargeworden, sondern bereits in den Anfängen meiner Berufstätigkeit. So arbeitete ich Anfang der 1980er in einem Werk, das Gaszähler herstellte, in der Produktion, und zwar im Akkord. Regelmäßig tauchte ein Mitarbeiter der Firma auf, um die Zeiten zu messen, die wir für die Montage eines Gaszählers benötigten. Beim ersten Mal hatte mich das so nervös gemacht, daß ich mit einer Hand abrutsche und mir einen tiefen und häßlichen Schnitt zuzog. Doch ich mußte, nachdem die Verletzung vom Firmenarzt versorgt worden war, weiterarbeiten und den Test noch einmal über mich ergehen lassen. Viel sprang dabei nicht heraus, die Zeit, die wir benötigen durften, wurde jedes Mal nur um ein paar Sekunden verkürzt, was letztlich den Akkordlohn dezimierte. Drei der Frauen, die mit mir am Band saßen, waren sichtlich Alkoholikerinnen, sie begannen bereits am Morgen mit dem Öffnen von Sektflaschen. Damals hatte ich nur einen schwammigen Begriff davon, was ein Alkoholiker ist und die Kolleginnen daher nicht als Alkoholikerinnen eingestuft. Heute weiß ich, daß viele Berufstätige, ganz besonders in stumpfsinnigen Tätigkeiten, zu Drogen greifen, um die damit verbundene seelische Belastung ertragen zu können.

Mitte der 1980er arbeitete ich vier Jahre lang in einer Druckerei als Fachhilfskraft im Schichtbetrieb. Ich mußte täglich mehrmals Verdrehungen der Hüfte ertragen, um die Druckmaschine zu reinigen (den sog. Gegendruck, der war innen und recht tief unten). Zudem gab es einige Drucker, die nicht sehr achtsam waren und denen bereits der eine oder andere Finger fehlte, weil sie damit in die laufende Maschine gegriffen hatten. Einer dieser Drucker sorgte dann dafür, daß auch mir eine Hand schwer gequetscht wurde, indem er die Maschine anwarf, während ich noch am Reinigen war. Ich wurde mehrere Wochen krankgeschrieben und bin dann einfach nicht mehr hin.

In einem anderen Job bediente ich eine CNC-Fräß- und Bohrmaschine, die als Abfall glasfaserverstärkten Epoxydharzstaub produzierte. Die Staubschutzmasken mußte ich regelmäßig selbst kaufen, der Eigentümer dieser Elektronikfirma wies mich immer, wenn ich nachfragte, auf vom Vorgänger bereits benutzte Masken hin. Beim Ausleeren des Abfallbehälters hüllte mich jedesmal eine Wolke dieses Staubes ein. Die Bezahlung war mäßig, das versprochene Facharbeitergeld habe ich niemals erhalten.

So ging es munter weiter, bis ich zuletzt (1995) bei einer Behörde (Rechenzentrum Oberfinanzdirektion) landete, die Steuerbescheide druckte. Das Betriebsklima war rauh bis häßlich, das ständige Rumgebrülle des Abteilungsleiters zerrte an den Nerven der Mitarbeiter. Nach sieben Jahren konnte ich nicht mehr, die zunehmenden Rückenschmerzen waren chronisch geworden, es kam mehrfach zu einer Blockade (Hexenschuß) und infolge dessen zu mehrwöchigen Krankschreibungen. Letztere förderten den Unmut der Kollegen und vor allem des Chefs, intensives Mobbing begleitete meine letzten Monate in diesem Job.

Was ich damit sagen möchte

Die im Artikel erwähnte Kultur von Befehl und Gehorsam ist nichts Außergewöhnliches, sondern vielmehr schon immer Standard nicht nur in deutschen Firmen und Behörden. Je größer eine Firma ist, desto strenger ist gewöhnlich auch die Kontrolle der Mitarbeiter durch die Führungskräfte. So habe ich einmal bei einer anderen Druckerei als Setzer gearbeitet – man stellte mich auf Empfehlung des Juniors ein, mit dem zusammen ich einst ein Praktikum im Grafikbereich am MacIntosh absolviert hatte. Meine Aufgabe neben der regulären Arbeit (hauptsächlich Siemanskataloge setzen mit Ventura Publisher) bestand darin, den älteren Kollegen, der noch immer an einer Linotype-Satzmaschine arbeitete, in die Computerwelt einzuführen. Nach zwei Jahren mit zahllosen Überstunden hatte ich zwar gut verdient und ein kleines finanzielles Polster angelegt, doch das damit einhergende Fettpolster begann, meine Gesundheit zu beeinträchtigen. Ich mußte damit aufhören, der Versuch, meine tägliche Arbeitszeit zu verringern, mißlang. Mir fehlte die körperliche Bewegung, die ich ein Leben lang gewohnt war.

Es gibt viele Menschen mit einem viel schlimmeren berufsbedingten Schicksal, z.B. solche, die mit Waschmittelherstellung und -befüllung zu tun hatten, Menschen, die Leuchtziffern auf Uhrenblätter pinselten und von dem Stoff Krebs bekamen, Leute, die ein Leben lang mit Feinstaub konfrontiert waren (Kohlebergwerk), Lackierer, aber auch Menschen, denen eine lebenslange sitzende Tätigkeit das Rückgrat beschädigt hat. Alles in allem sind offenbar nur wenige Tätigkeiten so gestaltet, daß man sie ohne nennenswerte körperliche Schädigungen überstehen kann.

Inzwischen lebe ich seit nunmehr 16 Jahren in zunehmender finanzieller und materieller Armut, mir geht gegen Monatsende meist das Geld aus, obwohl ich eigentlich nur Lebensmittel und Medikamente (Schmerzsalben, Muskelbäder etc.) kaufe. Seit der Corona-»Krise« haben die Tafeln teilweise geschlossen, wodurch die Versorgung noch enger wird. Dennoch möchte ich mit meinen 60 Jahren und einem ziemlich kaputten Körper nicht mehr fremdbestimmt arbeiten müssen, ich würde das meiner Einschätzung nach keine zwei Wochen überstehen. Allein schon der Gedanke, mich wieder herumscheuchen lassen zu müssen, nicht mehr frei über mich, meine Zeit und meinen Körper verfügen zu dürfen, erzeugt in mir Angst und Verspannung und damit auch körperliche Schmerzen. Daher schätze ich mich weitgehend glücklich, diesen Umständen nicht mehr ausgesetzt zu sein; seit einem Jahr muß ich auch keine Bewerbungen mehr schreiben, was sehr zu meiner körperlichen Entspannung beiträgt. Die materielle Not jedoch bleibt, die seelische Not hält sich dankenswerterweise in Grenzen.

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