Ich sehe das ein bisschen anders. Nämlich genau umgekehrt. Der postmoderne Mensch mag zwar seine Individualität feiern, aber die Krise hat ihm auch gezeigt, dass er der Gesellschaft niemals vollständig entsagen kann. Es auch gar nicht will. Dass Werte wie Solidarität wichtig sind und dass die Schwächeren uns brauchen. Wir wollen nach Corona wieder Gemeinschaft und zwar physisch und nicht nur im virtuellen Raum. Wir wollen aber dabei als Individuum erkennbar bleiben. Unserer Subjektivität nicht vollständig und zu jeder Zeit in einer anonymen Masse entsagen, sie darin aufgehen lassen wie in einer repressiven Gedankendiktatur oder auch einer idealistischen Träumerei.
Gerade die Erfahrung der Corona-Jahre hat der angeblich überindividualisierten Jugend doch gezeigt, dass man alleine eben doch nur ein Staubkorn gegen die Kräfte der Natur ist. Wissenschaft, Bildung, Wohlstand und soziale Absicherung sind immer ein Gemeinschaftsunterfangen, gemeinsame Kraftanstrengungen. Auf diese Dinge will niemand verzichten. Und sich dafür einzusetzen und sein (Berufs-)leben diesen höchst sozialen Aktivitäten zu widmen, liegt im Trend. Die Mär von der sozialen Kälte und Entfremdung ist eben genau das — eine Mär. Totale Egoisten gibt es sie? Wohl eher nicht. Neue Menschen? Nur in den Köpfen professioneller Kulturkritiker. Möchtegern-Propheten, deren ökonomische Nische im Aufbauschen von Gefahren und Konstruieren einfacher Lebensweisheiten liegt.
Es ist besonders festzuhalten: Der viel kritisierte (darum geht es dem Autor wohl) reziproke Altruismus ist vor allem eines: Altruismus. Das Motiv dahinter ist angesichts der Verletzlichkeit des Individuums, der allgemeinen Lebensrisiken denen wir Menschen ausgesetzt sind, nur allzu verständlich und macht unser Menschsein und unseren »Erfolg« letztlich aus. Dies zuzugeben ist schwer und Moralisten hätten gerne, dass es anders wäre. Aber gottlob ist das nicht unser Problem — höchstens dann, wenn aus Moralisten Fundamentalisten werden, die ihre asketischen Wunschträume mit Gewalt durchsetzen wollen. Solche Entwicklungen sehen wir weltweit zu Hauf und haben sie in der Vergangenheit oft genug durchlitten. Soll’n sie doch lieber Bücher und Essays schreiben. Dann sind sie beschäftigt - und können in ihrer Freizeit dann doch Egoisten sein. Eben so wie jeder von uns.