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  • Philipp Müller_952

123 Beiträge seit 08.10.2015

Machtverschiebungen

Die (geopolitischen) Gewinner und Verlierer jetzt bestimmen zu wollen, erscheint mir in der Absolutheit, die der Artikel vorgibt, etwas vorschnell. Auch die Einordnung der Gewinner und Verlierer erscheint mir nicht ganz stichhaltig.

"Die" Ukraine verliert nicht. Der Großteil der Ukrainer dagegen schon.
Seit Jahren ist es der Zweck der Ukraine russische Truppen und Ressourcen zu binden und Verhandlungsmasse für die EU und die USA zu sein. Diesen Zweck erfüllt die politische Führung in Kiew momentan weitestgehend mit Bravour. Dabei ist der Staat seit Jahren vom Ausland abhängig und hat keine realistische Option auf einen EU-Beitritt oder eine tatsächlich souveräne (Außen-)Politik. Die zukünftige Nachkriegsordnung mag mit weiteren Gebietsverlusten enden, aber ob die militärische (und politische?) Neutralität darin endet von zwei äußeren Kräften (Russland + EU) oder nur einem (Russland) abhängig zu sein, bedeutet nur eine andere Ausrichtung ihrer Nicht-Souveränität. Sowohl die ukrainische Führung als auch die ukrainischen Kapitalisten werden weiter zu Ungunsten der ukrainischen Proleten das Land ausbeuten können. Jedenfalls zielt der russische Staat bisher nicht auf eine Enteignung des ukrainischen Kapitals ab.

Verliert Russland? Vielleicht. Der Großteil der russischen Bevölkerung jedenfalls mit Sicherheit.
Dass Russland den Krieg militärisch gewinnt, sollte klar sein. Hinterher dürfte es eine Landverbindung zur Krim haben und damit seine strategische Position am schwarzen Meer (rein militärisch) verbessern. Gleichzeitig könnten EU und NATO dauerhaft die Ukraine nicht aufnehmen und Russland könnte somit mittel- bis langfristig mehr Ressourcen für andere Betätigungsfelder freihaben. Wobei letzteres ein Kalkül ist, das nur dann aufgeht, wenn man eine stabile Ordnung für die Ukraine erreichen kann, dass es weder der EU noch den USA erlaubt, die Ukraine wieder aus dem russischen Orbit zu lösen. Sonst bleibt die Ukraine das moderne Äquivalent zum römisch-persischen Armenien, das, je nach Lage, immer zwischen den beiden Blöcken aufgeteilt oder militärisch 'beeinflusst' wurde.
Bei einem Blick auf die wirtschaftliche und weltpolitische Situation Russlands lässt sich der Verliererstatus noch schlechter bestimmen - jedenfalls momentan. Zu wirtschaftlichen Sanktionen lassen sich bisher nur die USA, die EU und die engsten Verbündeten dieser bewegen. Der Großteil der restlichen Welt mag den Krieg formal verurteilen, aber man will sich den Sanktionen nicht anschließen bzw. fordert Ausnahmen von westlichen Sanktionen für die jeweils einem selbst wichtigsten Bereiche. Trotzdem ist die russische Wirtschaft schwer getroffen und man bemüht sich in Moskua um Diversifizierung, d.h. auch wirtschaftlich eine noch engere Anbindung an China ohne in vollständige Abhängigkeit zu geraten. Nimmt man in den Blick, dass Indien seine Geschäfte mit Russland in den Landeswährungen durchführen will und weder die Türkei noch die arabischen Staaten ihre Verträge mit Russland gekündigt haben, dann ist der russische Staat bei weitem nicht so isoliert wie es hier gerne dargestellt wird. Mal abgesehen davon, dass auch die EU Verträge mit Russland hat, die man nicht gefährden möchte (Gas ist nur einer davon), bietet Russland auch einen Markt auf den VW, Fiat oder LVMH auch in Zukunft wohl kaum verzichten wollen.
Zudem halte ich es für angebracht davon auszugehen, dass man in den Planungsbüros in Moskau vorher über den Umfang der Strafaktionen nachgedacht hat und sich überlegt hat, wie man diesen begegnen kann. Unter dieser Prämisse sind die aktuellen Einbrüche erstmal nur ein Fakt, aber noch kein Anzeichen für die tendenzielle Entwicklung der russischen Wirtschaft. Erst in einigen Jahren wird sich zeigen, ob man sich verkalkuliert hat.
Gleichzeitig ist der russische Staat bei weitem nicht weltpolitisch derart isoliert - wie oben schon angesprochen -, wie es das Gerede von 'der Weltgemeinschaft' in deutschen Medien etc. nahelegt. Darüber hinaus hat der Krieg aber noch ein anderes Ergebnis: Wenn Russland gewinnt, hat es weltweit unter Beweis gestellt, dass es in der Lage ist gegen einen militärisch und finanziell aufgerüsteten Vasallen des Westens, der tatsächlich über eine gewisse Schlagkraft verfügte (im Gegensatz bspw. zum Iraq oder Afghanistan) zu gewinnen. Das könnte für viele Staaten eine militärisch-politische Zusammenarbeit mit Russland in der Zukunft noch interessanter erscheinen lassen.

Die EU: Gewinner oder Verlierer? Der Großteil der Bevölkerung verliert nur.
Dass die Strategie aus Drohungen, Verhandlungen und Sanktionen, die man insbesondere auf amerikanischem Druck gegenüber Moskau verfolgt hat, gescheitert ist, spricht erstmal für die Verliererseite. Dass die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland weniger den USA, dafür mehr der EU schaden, sollte auch deutlich sein.
Allerdings bietet der Krieg geopolitisch für die EU (bzw. ihre politischen Zentren in Berlin und Paris) auch zwei Chancen ihr weltpolitisches Gewicht relativ zu den USA zu erhöhen. Einerseits hätte man die Ukraine sich einverleiben können, wenn man nicht durch die aktuelle Struktur der EU, ohne durchschlagskräftigen Zentralstaat, vor einem weiteren armen und Veto-berechtigten Mitgliedsland zurückgeschräckt wäre. Im Namen der Ukraine-Einigkeit kann man nun wieder verstärkt auf eine größere EUropäische Einigung drängen.
Andererseits bedeutet die, nun politisch durchsetzbare, militärische Aufrüstung der westeuropäischen Staaten, dass man sich das militärische Potential verschafft, mit dem noch mehr 'verantwortliche Einsätze' in aller Welt und unabhängig von den USA möglich werden. Mit Verweis auf die russische Aggression erhält man aktuell auch den politischen Spielraum, um die EUropäische Einheit bei Krisen zu forden und mit EUropäischen Soldaten reagieren zu können. D.h. unter Umständen ist das der Startschuss für eine weitere Lösung von US-Interessen. Dass bestimmte Wirtschaftsbereiche, wie bereits zuvor, nicht von den Sanktionen betroffen sein sollen, zeigt zumindest, dass man in der EU eben weiterhin seine Spielräume auch gegenüber den USA bestmöglich für das eigene Kapital ausnutzen möchte.

Die USA: Die Bevölkerung verliert, ansonsten könnte es einen Pyrrhussieg geben.
Kurzfristig ist das Ziel erreicht: Russland ist aktuell nicht nur latent an seiner Südwestgrenze gebunden, sondern direkt in einem blutigen Konflikt gefangen und wirtschaftlich unter Druck. Ob allerdings eine mittelfristige Neutralisierung Russlands, d.h. eine Neutralisierung zum Zweck der Eindämmung Chinas dabei herauskommt, sollte zumindest in Zweifel gezogen werden. Denn dafür müsste der Krieg entweder sehr lange dauern oder ein Regime Change in Russland stattfinden, der aktuell wohl eher nicht wahrscheinlich ist. Aber selbst so ein Regime Change müsste damit verbunden sein, dass man der neuen russischen Führung und dem russischen Kapital wirtschaftlich etwas anbieten könnte, um sie dauerhaft von China fernzuhalten. Das haben die USA aber nur bedingt und EUropäisches Kapital ist eben kein amerikanisches.
Die letzten Wochen haben aber nicht nur gezeigt, dass man mal wieder einen Vasallen nicht verteidigen will (und hier auch mal nicht kann), sondern auch dass der US-Einfluss weltweit zurückgeht. Die VAE fühlten sich stark genug sich im SIcherheitsrat zu enthalten, China bewegt sich keinen Zentimeter, die Türkei folgt weiter ihrem Kurs der Äquidistanz, in Lateinamerika wird sich gegen die Sanktionen ausgesprochen. Die Einfrierung der Konten und die Wirtschaftssanktionen zeigen gleichzeitig jedem Drittland umso deutlicher an, dass man sich insbesondere von Dollar unabhängig machen sollte. Wie schnell das geht, wird sich im Zweifelsfall zeigen, aber die schon poröse wirtschaftliche Macht der USA erhällt damit wahrscheinlich weitere Schläge, die dem angeschlagenen US-Kapital und vor allem auch dem Staat angesichts seines Schuldenberges gefährlich werden können.

Die Verlierer: Die ukrainischen Proletarier, die jetzt vertrieben werden, getötet werden, eingezogen werden für einen verlorenen Krieg, wenn sie Männer sind, deren Versorgungslage schlecht oder inexistent ist. Nicht 'das ukrainische Volk'. Denn Kriegsgewinnler etc. gibt es da auch.
Die russischen Proletarier, deren Lebensstandard auf absehbare Zeit zusammenbricht, denen Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit droht und die eingezogen werden könnten, sollte der Krieg doch noch lange dauern. Die auch die Kriegskosten aufbringen müssen. Nicht 'das russische Volk'. Kriegsgewinnler gibt es auch in Russland.
Die EUropäischen Proletarier, denen horrende Heizkosten und noch mehr Inflation drohen. Und die am Ende für eine Rüstung bezahlen, die sie weder sicherer macht, noch die irgendwas an ihrem Leben verbessert. Im Gegenteil wird andernorts gespart werden mit Verweis auf die 'notwendige Rüstung'. Wer braucht Schulen, Wohnungen oder (nicht-militärische) Infrastruktur, wenn Panzer doch so viel mehr Lebensqualität liefern?
Das gilt natürlich auch für die anderen, indirekt betroffenen Proleten auf diesem Planeten. Ganz zu schweigen von denen, deren Versorgung mit Lebensmitteln durch die Unterbrechung der Handelswege, Sanktionen und Spekulationen an 'den Märkten' jetzt (zusätzlich) bedroht ist.

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