Zitate aus dem Artikel kursiv und in „“-Zeichen:
„Anders als andere Hirnforscher spielt er darin nicht den Menschen gegen sein Gehirn aus, sondern zeigt auf, warum wir ihn als Körper-Geist-Einheit auffassen müssen.“
Eigentlich ist diese Zusammenfassung falsch.
Es geht eigentlich darum, dass wir laut ihn erkannt haben, dass Geist = Aktivitäten im Nervensystem (nicht nur im Gehirn).
„"Mein Gehirn war's, dafür kann ich gar nichts!" Ich halte das für irreführend und sehe es wie Lehmann: Ich bin diese Körper-Geist-Einheit.“
Die Diskussion ist eine philosophische.
Es wäre nach dem Sinn von Strafe zu fragen.
„Wir interpretieren lediglich bestimmte Verhaltensweisen dahingehend.“
Nun muss man die Kirche vielleicht auch ein wenig im Dorf lassen.
Der "Geist" oder das Bewusstsein oder was auch immer, kann man als eine latente Eigenschaft auffassen. Die Verhaltensweisen eines Menschen, sein individuelles Erleben (* und eben Gehirnscanns sind dagegen eine messbare Eigenschaft.
Wir haben es in Medizin und Psychologie aber häufiger mit solchen latenten Eigenschaften zu tun. Beispielsweise "Intelligenz" (bitte keine Diskussion darüber) oder die "Big 5". In der Medizin ist ja auch so, dass wir vom Vorhandensein von Antikörpern auf die Existenz einer akuten oder zurückliegenden Viruserkrankung zurückfolgern.
Übrigens macht es die Physik häufig nicht anders. Dunkle Materie kann man direkt nicht messen, aber man kann sie anhand ihrer Gravitation nachweisen. Auch im Teilchenbeschleuniger kann man gewisse Partikel nicht direkt erfassen, sondern nur ihre Zerfallsprodukte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.
(Selbst in der Mathematik gibt es Beispiele davon. Der Beweis für die Unendlichkeit der Primzahlen wird gemeinhin akzeptiert, obwohl noch nie jemand bis Unendlich gezählt hat. Bis auf Jack Norris!)
Warum wir jetzt ausgerechnet beim Geist Hemmungen bei diesem Schluss haben, liegt doch in erster Linie an der subjektiven Bedeutung des Geistes und unserer Kulturgeschichte.
„Also das Paradigma, dass man Verhalten - in Mensch wie Tier - nur von außen verstehen kann.“
Das stimmt so nicht. Der Behaviorismus beschränkt sich nur auf Beobachtungen von Außen und besteht auf wiederholbaren Experimenten. Davor war z. B. Introspektion (James in den USA) oder Spekulation anhand von Einzelfällen (Freuds Patienten) verbreitet. An der Stelle schluss...
„(...)Psychologen sollten überhaupt nicht mehr vom Bewusstsein sprechen.“
Das war ein Stück weit auch die Philosophie der damaligen Epoche. Positivismus, Russell usw.
Was auch daran lag, dass mit den Bewusstsein in den Jahren zuvor viel "Schindluder" getrieben wurde. Anschließend hat man dann das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
„Erstens ist nämlich die Annahme, wenn das (unbewusste) BP nicht das (bewusste) Veto determiniert, dann müsse es eben eine andere (unbewusste) Gehirnreaktion geben, schlicht "ad hoc".“
Eigentlich ist das Argument gar nicht mal so neu:
Das einzelne Neuron hat kein Bewusstsein (jedenfalls nach allgemeiner Darstellung), das Gehirn als Ganzes dann irgendwie schon. Ergo setzt sich das Bewusstsein aus unbewussten Prozessen zusammen.
Das ist ein Problem, mit dem sich die Philosophen schon länger rumschlagen dürften.
„Zweitens wird hier so getan, als sei der (zum Zeitpunkt von Seths Artikel schon lang verstorbene) Benjamin Libet in der Bringschuld.“
Das verstehe ich grade nicht.
„Hartmann selbst nennt diese Reaktion einen "Hammer".“
Ich nenne diese Reaktion "menschlich".
Sicherlich wird auch Schleim sich mal an ein wissenschaftliches Paper, ein Ergebnis usw. erinnert haben, das Orginal aber nicht mehr beschaffen können. Das ist eben die Frucht des Viellesens. Irgendwann ist der exakte Ort nicht mehr erinnerlich.
So wie Dennetts Antwort klingt, hat er offenbar niemals ein Paper gehabt, sondern Walter hat ihn nur von diesem Experiment erzählt. Was interessante Interpretationen zulässt, aber solche Spekulationen will ich hier gar nicht anstrengen.
„(...) auch um die angeblichen Persönlichkeitsveränderungen von Phineas Gage (...)“
Die ist meines Wissens gut dokumentiert.
Außerdem geht es bei Gage im Grunde nur um ein anschauliches Beispiel für einen Lehrsatz, den man in der Neurologie lernt: Impulskontrolle sitzt im (Prä)frontaler Cortex (AFAIR).
Das ist übrigens auch der Punkt, den Schleim weiter oben "verschweigt": Es kann sehr wohl sein, dass sich das Potenzial zu Handlungen irgendwo im Gehirn aufbaut, aber der Cortex noch mal ein Veto einlegen muss.
Das könnte dann auch erklären, wieso junge Menschen (das Hirnteil gehört zu denen, die sich am Spätesten entwickeln, bis zum 25 Lebensjahr) tendenziell "verführbarer" sind und... Aber solche Spekulation gehört nicht in eine Kritik.
Wenn Schleim sich hier wirklich die Mühe macht, selbst nachzusehen: Respekt.
„Jetzt versteht vielleicht auch mancher Leser besser, warum ich so hart mit Reduktionisten/Naturalisten ins Gericht gehe“
Den Punkt habe ich an anderer Stelle nach gemacht, insofern kein Widerspruch.
Es ist aber so, dass das eine immer allgemeiner werdende Tendenz ist. Man fühlt sich selbst im Recht und sucht dazu die Beweise. Die andere Seite liegt ja falsch, wieso soll man ihr nachgeben?
„Wer beispielsweise strategisch vorausplante oder nicht zufällig genug auf die Knöpfe drückte, wurde schlicht von der Auswertung ausgeschlossen.“
Menschen sind VERDAMMT schlechte Zufallsgeneratoren.
„Das heißt, der Hirnforscher konstruiert sich sein Subjekt, seine Versuchsperson, indem er erst einmal alles verbietet, was bedeutende Entscheidungen ausmacht.“
Jedes wissenschaftliche Modell ist eine Abstraktion.
„Auf einmal hatte ich diese große Vision über das ganze deterministische Universum“
https://www.spektrum.de/lexikon/physik/determinismus/2942
Von einem wissenschaftlichen Standpunkt gibt es einen Zufall.
„Dies bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist, als bisher gedacht.“
Das ist natürlich keine Schlussfolgerung oder das Fazit einer langen Beschäftigung mit dem Für und Wider, sondern eine Spekualtion. Und zwar eine philosophische.
Die wird nur deshalb so hoch gehandelt, weil sie von einem Fachwissenschaftler statt von einen Philosophen kommt.
Wenn wir davon ausgehen, dass "Ich" = "Nervensystem + Zusammenhang", dann bedeutet "Das Gehirn determiniert das Ich" nichts anderes als "das Ich determiniert das Ich". Das ist aber eine Trivialität.
Korrekterweise müsste man formulieren, dass es im Gehirn einmal Bereitschaftspotenziale gibt und einmal eine "Veto"-Instanz (wahrscheinlich vorne im Hirn) und dann vom Verhältnis dieser beider Instanzen sprechen.
Welches dieser Instanz ist aber "ich"? Das wäre ja genauso als wenn jemand sagen würde, "ich bin gesund, nur mein Organ X ist krank".
Das mag zwar irgendwie nach Stoizismus klingen, ist aber in der Praxis genauso wenig durchzuhalten. Wird der Schmerz/die Beeinträchtigung zu heftig, fällt das aus.
„Das Strafrecht gründe auf einem Fehler; niemand sei für seine Taten verantwortlich, daher müssten neue Gesetze her.“
Darüber könnte man stundenlang diskutieren. Es macht aber erfahrungsgemäß keinen Sinn.
Eine Lobbygruppe nimmt irgendwelche Ergebnisse und flüstert sie an der richtigen Stelle ein und der Gesetzgebungsprozess läuft an.
Wir kennen das aus anderen Bereichen. Es ist leider Fakt.
Allerdings wird die Hirnforschung auch nur da rangezogen, wo es ins sowieso vorhandene (= un- oder "vorwissenschaftliche") Weltbild passt.
Deshalb fordern manche "Aktivisten" jetzt das Wahlrecht ab 16. Die Neurologie könnte hier entgegenen, dass in dem Alter längst nicht alle "Reifeprozesse" des Gehirns abgeschlossen sind.
Deswegen werden Irrungen und Wirrungen in diesem Alter auch gerne als "Jugendsünde" abgetan, man verzeiht den 16jährigen Dinge, die man dem 30jährigen eher vorhalten würde.
Diese Reife hat übrigens nicht allein etwas mit der Pubertät und/oder der rein intellektuellen Entwicklung zu tun, sondern eben auch mit Impulskontrolle.
P.S.: Interessant ist, dass Schleim das "split brain"-Syndrom gar nicht erwähnt. Da kann es nämlich wirklich sein, dass die linke Gehirnhälfte nicht mehr weiß, was die rechte tut. Und dennoch scheinen diese Patienten ihre eigenen Entscheidungen usw. auch vor außenstehenden rechtfertigen zu können, so dass sie wie eine Person erscheinen.
*: Das individuelle Erleben ist nur für die einzelne Person direkt Wahrnehmbar, es besteht also ein Fragezeichen bezüglich intersubjektivität.