c.renée schrieb am 27.06.2021 16:53:
Noch "verrückter" finde ich die Sache mit der Rolltreppe. Wenn die steht und man geht drauf, dann kommen einem die Stufen entgegen. Als ich das zum ersten mal erlebt hatte wäre ich beinahe hingefallen.
Wahrscheinlich passiert das aber nur, wenn man häufig Rolltreppen benutzt. Da lernt das Gehirn anscheinend, die Bewegung der Treppe voraus zu berechnen. Und unterscheidet zwischen Rolltreppe und normale Treppe. Es hilft auch nicht, dass ich mir bewusst bin, dass dieses Mal die Rolltreppe steht, das Gehirn registriert wohl vom Aussehen, da ist jetzt Rolltreppe, die muss sich bewegen, also muss die Bewegung rausgerechnet werden.
Am verrücktesten fand ich diesen Effekt ja in den Rummelplatz-3D-Kinos, die es in den 70ern eine Zeitlang gab. Da wurden optisch vorverzerrte recht dynamische egoperspektivische Filmchen von innen in ein riesiges Kuppelzelt projiziert und den innen Stehenden auf nicht-stereoskopische Weise (also ohne Brillen und getrennte Bilder!) ein optisches Mittendrinsein suggeriert, das zu massenhaften - fast choreographisch einstudiert anmutenden - unwillkürlichen Körperreaktion aller sich in dieser Simulation Befindenden führte, also Alle sich in z.B. in der vermeintlichen Achterbahn in den Kurven einer real gar nicht vorhandenen Fliehkraft gegenlegten oder Over the Top vor dem Abgrund sich rückwärts in die imaginären Polster stemmten.
Das war aber schon nach 2 oder 3 Jahren wieder vorbei, wenn ich mich recht erinnere, hatten sich mehrfach welche böse verletzt, und dann war's ganz schnell wieder weg.
Das richtig Verrückte daran war, es war beim ersten Gucken nahezu unmöglich - selbst im vollen Bewusstsein, sich in einer Simulation zu befinden und genau zu wissen, jeden Moment passiert darin was! - die unwillkürlichen Körperreaktionen willentlich zu unterdrücken; vorhersehbare langgezogene Achterbahnsteilkurven gingen da noch relativ gut, aber so plötzliche Bremsungsillusionen - keine Chance. Selbst beim 2. Durchgang, also mit dem vorherigen Wissen, wann was passiert, gelang die bewusste Kontrolle der Reaktionen schon besser, aber längst noch nicht perfekt.
Aber selbst anhand einer starren "normalen" Treppe lässt sich der Autopilot-Effekt gut oder ggf. auch mit schmerzhaften Folgen nachvollziehen: die sind normgerecht so konstruiert, dass die Tritthöhe der einzelnen Stufen in bestimmten Ober- und Untergrenzen varieren kann, aber immer ein ganzzahliger Teiler der Geschosshöhe sein muss, um ein gleichmäßiges Trittmaß zu bekommen. So sind wir es gewohnt, jede neue Treppe eher bewusst kurz taxiert zu betreten, um nach 2-3 Stufen schon wieder komplett auf Autopilot zu schalten. Böse enden kann das, wenn z.B. nachträglich unten der Partykeller gefliest oder oben Laminat verlegt worden ist. Da macht ein einziger Zentimeter Normabweichung unten schnell eine Hackenstauchung oder oben einen Stolpersturz. Dabei zeigt gerade das Treppenbeispiel, ähnlich dem Ballspielbeispiel aus dem Artikel, wie präzise dieses bewusstseinslose Agieren funktioniert, solange sich nix ändert.
Vielleicht sollten alle Wissenschaftler eine Frage in ihrer Forschung mit bedenken: Wofür ist es gut? Die "Natur" hat doch in Millionen Jahren nicht irgendwelchen unbrauchbaren Unfug "erfunden". Es gibt Umstände, da ist langes nachdenken müssen nicht angebracht, bei anderen ist es eher wichtig, dass man länger nachdenkt.
Aus Selbsterhaltungstrieb habe ich mir eh angewöhnt, bei "bahnbrechenden" Erkenntnissen (vor allem aus Transatlantistan) zu weitestgehend medizinischen und psychologischen Themen äußerst skeptisch zu sein. Da wurden mir zu viele Fakes bekannt.
Skepsis kann nie schaden. Mir erschien es jedenfalls angebracht, den vorwiegend auf neurobiologischem und philosophischem Gebiet geführten Disput zwischen Lehmann und Schleim um (wenigstens für mich bis vor Kurzem) neue Theorien aus der Psychologie zu ergänzen (die selbstverständlich ihrerseits wieder rückgreift auf neurobiologische Forschung und auch die Philosophie nicht scheut).
Gute Nacht!
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (27.06.2021 23:46).