knarr schrieb am 23.03.2021 14:25:
morgen Stern schrieb am 23.03.2021 im übergeordneten Faden:
Nur weil dass GG tatsächlich besser ist als die Tagespolitik, sollten wir m. E. nicht so tun, als wäre das GG irgendwie ernsthaft das, was die Vertragstheorien behaupten. Das ist es nicht, ist es nie gewesen.
Hm, da hätte ich jetzt tatsächlich gern noch einen Nachtrag von Decker zu: Was präzise ist denn dass GG?
Es wäre eine Grundlage berechtigter Kritik wenn man bedenkt, woran staatliches Handeln nach dem Grundgesetz eigentlich hätte gebunden sein sollen.
Du denkst dabei an den ersten Satz von Art. 20 (2) GG?
Eine konstruktive Gegenfrage erscheint mir die nach dem persönlichen Verständnis der Menschenwürde: dem augenscheinlich einer Volkskrankheit gleichenden subjektiven Missverständnis von der eigenen Würde gebiert erst die notwendig erscheinende abstrakte Vorstellung der Würde menschlicher Lebewesen.
Ich komme nicht recht dahinter, was du damit sagen willst, "einer Volkskrankheit gleichendes subjektives Missverständnis" finde ich auch harte Worte, wenngleich mit Blick auf die kapitalistische Vernutzungsgeschichte von Menschenmaterial plausibel.
Mir war der Begriff der Würde immer sperrig, unklar, sowohl konkret, vielleicht weil ich stets zu antiautoritär keine sah, wo welche sein sollte, als auch abstrakt, weil zu oft keine gewährt wird, wo sie unantastbar existieren sollte. Die Unantastbarkeit verweist den Begriff ohnehin ins Ideelle, Abstrakte, Spukhafte.
https://www.dwds.de/wb/Würde fasst die Etymologie so zusammen:
Würde f. ‘Achtung bewirkendes Wesen oder Verhalten eines Menschen, aus Stellung und Amt erwachsendes Ansehen, mit Ansehen und Geltung verbundene Stellung, Amt’, ahd. wirdī ‘Ansehen, Verdienst, Ehrung’ (8. Jh.), mhd. wirde, wierde, (md.) werde ‘Wert, Ansehen, Ehre(nbezeigung), Verehrung’, frühnhd. Würde (16. Jh., mit Übergang von i in ü) ist ein ī-Abstraktum zu dem unter ↗wert (s. d.) behandelten Adjektiv. Als Bedeutung ist anzusetzen ‘Wert, Ansehen, Geltung’ (auf Grund sozialer Stellung und gesellschaftlichen Ranges) und die sich daraus ergebende ‘Ehrung’. Daneben (ebenfalls bereits ahd.) steht Würde für den ‘Wert eines Menschen, der in seinem Wesen, seinen Eigenschaften und Leistungen beruht’. Um die Mitte des 18. Jhs. entwickelt sich Würde unter dem Einfluß der idealistischen Philosophie und Ethik (Kant, Schiller) zur Bezeichnung für den ‘von allen Äußerlichkeiten unabhängigen inneren, absoluten Wert des Menschen, der sich in seinem (ethischen) Denken und Verhalten äußert’, daher häufig in Verbindungen wie Würde der Menschheit, des Menschen (18. Jh.). würdig Adj. ‘der Würde entsprechend, angemessen, ernst, gewichtig’, ahd. wirdīg ‘wert, verdient, ehrwürdig’ (8. Jh.), mhd. wirdic, wirdec, (seit 14. Jh. auch) würdig ‘Wert habend, trefflich, angesehen, edel’. S. auch ↗unwirsch.
Bis zum 16 Jhdt. war offenbar Standesdünkel die Basis des Begriffs. Dass "wert" von "werden", "wenden", "drehen" ausgeht, erklärt einerseits die Identität mit unserem Lieblings-Konjunktiv-Wörtchen, die ich immer schillernd fand: Würde würde halt etwas bedeuten, wenn das Wörtchen wenn nicht wär. Andererseits steckt auch da wahrscheinlich bloß eine dunkle Urgeschichte von Standesdünkel drin: Gedreht und gewendet wird dieser Feudalherr, jene Leibeigene.
Mit der Aufklärung gab's dann offenbar eine generalisierende Verschiebung zur Seelen-Vorstellung sei's der christlichen oder der antiken Traditionen. Das Ewige in jedem Menschen, unantastbar durch Realgeschichtliches. Das hat eine poetische Kraft, der ich mich nicht entziehen mag, wenngleich ich die Unantastbarkeit Unfug finde: Was sollte irgendeine Realgeschichte in der Ewigkeit, wenn diese keine Bedeutung für die Ewigkeit hätte? Das christliche Gute-ins-Töpfchen-Schlechte-ins-Kröpfchen-Prinzip von Himmel und Hölle reflektiert das ja. Die unantastbare Würde ist insofern sublimer, geradezu edler als die christliche Seelen-Vorstellung, umgekehrt aber auch ohnmächtiger gegenüber irgendeiner realgeschichtlichen Wirksamkeit.
Ich bin nicht genug Jurist, um Klarheit darüber zu haben, in welchen Kontexten Artikel 1 GG eigentlich wirklich irgendeinen Unterschied der Rechtsprechung bewirkt, als Vorurteil habe ich nur die Vorstellung, dass die Differenz von Euthanasie unterm NS und Behindertenrechten in der BRD daran wesentlich hängt. Allgemeiner vielleicht: Sozialstaat entledigt sich auch der offensichtlich Unnützen nicht, obgleich die ja in allen Rechnungen immer bloß nur auf der Kostenseite als zu Eliminierendes stehen. Stimmt dieses Vorurteil, würde ich mich auch der realgeschichtlichen Kraft der Poesie des Begriffs nicht entziehen wollen. Was nichts daran ändert, dass Würde bloß sein würde, wenn das Wörtchen wenn nicht wär.
Ich bin mir jetzt aber auch wirklich nicht sicher, ob du so etwas in der Art hören wolltest, finde deine Formulierung zum "persönlichen Verständnis" so vage, dass ich mir nicht sicher bin, ob's dir da überhaupt um meins ging. Zudem bleibt ja auch mein Beantwortungsversuch recht hilflos vage ...