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  • Tinker666

mehr als 1000 Beiträge seit 05.08.2005

Die Schockstrategie

Slavoj Žižek über die Macht der Ideologie in der Krise

Der Kapitalismus fordert Entschiedenheit. Der Preis, den wir dafür
zahlen, ist hoch. Für den slowenischen Philosophen und
Psychoanalytiker Slavoj Žižek offenbart die derzeitige Krise vor
allem eines: eine manipulative Strategie, um kapitalistische
Spielregeln noch radikaler zu etablieren. Sein neues Buch heißt "Auf
verlorenem Posten".
Schon immer hat der wilde Denker Slavoj Žižek unsere scheinbaren
Gewissheiten radikal zerstört. Auch mit "Auf verlorenem Posten" hebt
sich der slowenische Philosophie-Star aus Ljubljana ab von den
meisten Zeitdiagnosen. Die Krise, sagt Žižek, bietet keine Katharsis.
Im Gegenteil: Sie schnürt unsere Fesseln noch enger.

Krise als Katastrophenszenario
"Ich denke", so Žižek, "dass das Schockmoment der Krise als
manipulative Strategie des globalen Kapitalismus genutzt wird, um
kapitalistische Spielregeln noch radikaler zu etablieren und den
Sozialstaat auszuhöhlen." Die Krise als Katastrophenszenario, das uns
die Prioritäten der globalen Welt klar macht. Milliarden werden in
das Bankenloch gestopft. Klimawandel, HIV oder Hungersnöte - all das
kann warten - wie immer. Politiker folgen der Religion des Marktes.
Wir sind die "Crash Test Dummies" für den Frontalkurs.

"Gerade in Krisenzeiten ermöglicht uns die Ideologie, dass wir
einfach weiterträumen", so Žižek. "Anstatt kritische Fragen zu
stellen, sollen wir uns einfach entspannen. Für mich ist das pervers:
Ständig wird uns gesagt, dass die Finanzkrise nur ein Weg des
Kapitalismus ist, sich selbst zu regulieren, und wir sicher sein
können, dass diese Krise auf lange Sicht etwas ganz normales im
Wirtschaftszyklus ist." Der Kapitalismus - "the only game in town" -
längst haben wir diese Wahrheit verinnerlicht. Auch in der Krise
glauben wir noch immer den Interpretationen der ökonomischen Eliten:
Nicht das System ist schuld, sondern die Gier Einzelner. Je einfacher
die Schuldigen zu identifizieren sind, desto besser.

"Das hatte schon fast antisemitische Ausmaße", erklärt der Philosoph.
"Schauen wir uns Bernard Madoff an. Es ist erstaunlich, wie die Leute
sich auf ihn stürzten und ihn als psychisch gestörten und verkommenen
Freak hinstellten. Nach dem Motto: Schaut her, dieser korrupte Jude,
der unser Geld verzockt hat. Fakt ist: Madoff hat nur die Logik des
Systems bis zum Äußersten getrieben. Wir sollten daher eher fragen:
Welche sozialen und ökonomischen Bedingungen haben Madoff dazu
gebracht, so zu handeln?"

Marionetten eines Systems
Die Dynamik der kapitalistischen Welt treibt uns an. Wir sollen Spaß
haben und unser Potential ausschöpfen, neben der festgefahrenen
Vergnügungsspur: das Nichts. Das ist die perfide Wahrheit, die der
Kapitalismusgegner Žižek offenlegen will. Wir sind Marionetten eines
Systems, gehalten an den unsichtbaren Fäden kapitalistischer
Propaganda. "Genau das braucht das System, um zu überleben", sagt er.
"Es kann sich nur reproduzieren, indem es uns durch Vergnügen
versklavt. So interpretiere ich im Film 'Matrix' die berühmte Szene,
in der die Menschen auf einmal erkennen, in welcher Situation sie
stecken, und wie das System ihre Energie aussaugt, ohne dass sie sich
dessen bewusst sind."

Gefangen in einer Scheinwelt, hinter der sich der Horror des Realen
verbirgt. Für seine sprunghaften Assoziationen nutzt der
Philosophie-Entertainer jede Gelegenheit. "Das hier ist fast so wie
in der 'Truman-Show'. Alles ist durchorganisiert. Wahrscheinlich ist
auch dieser Mann hierher bestellt worden, um uns zu stören", so
Žižek. Unbewusst folgen wir einer Fiktion. Dem System ist jedes
Mittel recht, um unsere Träume in die richtigen Bahnen zu lenken.
Auch in Hollywood zeigt sich für Žižek, den Psychoanalytiker, mit
welchen Mitteln sich der Kapitalismus durchsetzt.

Woher wissen wir, was wir ersehnen?
"Hollywood-Filme", sagt er, "interessieren mich, da sie spiegeln, wo
wir heute ideologisch stehen. Und sie sind mehr als das: Hollywood
produziert Ideologie, indem es uns Modelle präsentiert, wie wir uns
verhalten sollen." Und er ergänzt: "Unser Problem besteht nicht
darin, dass unsere Sehnsüchte befriedigt werden. Unser Problem ist:
Woher wissen wir, was wir ersehnen? Menschliche Sehnsucht ist nichts
Spontanes. Unsere Sehnsüchte sind künstlich. Man muss uns überhaupt
erst beibringen, wie wir begehren sollen. Das Kino ist die ultimativ
perverse Kunstform. Es gibt uns nicht, was wir begehren. Es lehrt uns
erst, wie wir überhaupt begehren sollen."

Erst, wer sich von der Ideologie befreit, die uns die kapitalistische
Welt aufzwingt, kann wirklich frei sein. Žižek entlarvt in der Krise
unseren Mangel an utopischer Vorstellungskraft. Aber wenn wir uns
einfach dem Lauf der Geschichte fügen, macht uns Žižek keine Hoffnung
mehr. "Wir dürfen nicht einfach im dem Zug der Geschichte mitfahren.
Wir müssen die Notbremse ziehen, bevor wir an die Wand fahren. Das
müssen wir uns bewusst machen: Es hängt alles von uns ab. Wenn wir
die historische Entwicklung einfach so weiter laufen lassen, dann
wird es in einer noch nie dagewesenen sozialen und ökologischen
Katastrophe enden. Wir müssen endlich handeln, ohne darauf zu hoffen,
dass ein 'großer Anderer' oder die Geschichte auf unserer Seite ist.
Niemand ist auf unserer Seite." 

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=13901
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