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  • kemmerich

mehr als 1000 Beiträge seit 11.02.2020

Im Kern nicht so ganz richtig

Der Faschismus – so überhaupt eine ehemals unter Sozialdemokraten verbreitete Überzeugung – war die Konsequenz einer gespaltenen und zutiefst verängstigten Gesellschaft. Die Demokratie sei erst endgültig gesichert, wenn die Macht der Konzerne und des großen Geldes gebrochen wird. Der Kapitalismus erzeuge den Rechtsradikalismus. Das kann gerade gegenwärtig als gesichert gelten.

Das ist zu unscharf, nicht differenziert genug und führt so leider in die Irre. Nicht der Kapitalismus an sich erzeugt den Rechtsradikalismus, sondern ein nicht rund laufender Kapitalismus tut das. 1929 war big Wirtschaftskrise, und Deutschland war aus historischen Gründen (Reparationsleistungen u.a.m.) besonders gebeutelt. Die Amis zogen ihre Kredite aus Deutschland ab, weil sie selber wirtschaftlichen Stress ohne Ende hatten, was für Deutschland denkbar fatale Folgen hatte. Damals wusste man auch noch nicht, wie Wirtschaftskrisen effektiv bekämpft werden können. Besonders die zahlreichen Reichkanzler in der Endphase der Weimarer Republik hatten von Ökonomie keine Ahnung, z.B. das Sparschwein Brüning - er tat zielsicher genau das Falsche. 1933 kam Hitler schließlich an die Macht.

Was erleben wir denn "gerade gegenwärtig"? Doch nicht, dass der Kapitalismus selbst die Wähler den Rechtsextremisten in die Arme treibt! Es ist schlicht wieder Krisenzeit: erst Finanzkrise, dann Eurokrise, dann Coronakrise (das bislang größte Wirtschaftsexperiment in der Geschichte des Kapitalismus), jetzt Energiekrise. Richtig ist, dass der Kapitalismus durchaus krisenanfällig ist. Aber so ziemlich jede Krise ist in den Griff zu bekommen, indem man keynesianische Rezepte anwendet. Das geht derzeit leider nicht, wegen der völlig idiotischen Schuldenbremse. Also auch hier wieder: einfach nur mangelnder ökonomischer Sachverstand. Der übrigens auch schon alleine - ganz ohne Krise - ausreicht, um ein Land sozial zu spalten. Gleichheit gibt's im Kapitalismus zwar nicht, und selbst die vielbeschworene Chancengleichheit ist schwierig; denn am Ende sind da auch viele Leute unzufrieden, wenn sie aufgrund verschiedener Faktoren den Kürzeren gezogen haben. Aber Gleichheit ist immer ein Mehr oder Weniger, und kritisch wird's eben, wenn aufgrund einer völlig verfehlten, geradezu gemeingefährlichen ökonomischen Theorie (Neoklassik/Neoliberalismus) signifikante Bevölkerungsteile ohne Teilhabe sind und ein noch größerer Teil um seine Teilhabe fürchten muss. Dann geht der Zug stramm in Richtung AfD.

Es stellt sich die Frage, wieso es in den westlichen Industrienationen ab 1950 über 40-50 Jahre lang keine nennenswerten rechtsextremen Auswüchse gab. Der Kapitalismus war da ja schon am Werk. Auch in Westdeutschland, wo man verschämt von "sozialer Marktwirtschaft" sprach und das (unzutreffende) Wort von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" die Runde machte (unzutreffend deshalb, weil Westdeutschland von Beginn an eine knallharte Klassengesellschaft war).

Der Kapitalismus hat die Klassenunterschiede nicht beseitigt. Der Unterschied zwischen einem Feudalherr und einem leibeigenen Bauern früher mag etwa so groß sein wie der zwischen mir und Elon Musk heute. Allerdings leben wir heute besser als Kaiser und Könige früher. Ich muss es wissen, denn ich war mal auf Besuch in einem Barockschloss und durfte ausladende Räume, schöne Verzierungen, Hermelinmäntel, edles Porzellan und vieles mehr bestaunen. Jedoch gab es kein fließendes Wasser, keine Zentralheizung, keinen Strom, kein Telefon, kein Internet... und all diese Dinge, die für uns so selbstverständlich sind, sind die Ergebnisse einer hochdynamischen Wachstumsökonomie.

Mit dem Kapitalismus kam jene Wohlstandsbasis, die den demokratischen Rechtsstaat überhaupt erst ermöglicht hat. Man kann's überall in der Geschichte sehen: Erst kommt der Wohlstand, dann die Demokratie. Es gibt außer dem Kapitalismus aber kein anderes ökonomisches System, das derart elegant und so unverschämt effektiv Wohlstand erzeugt. Die starken Abhängigkeiten zwischen Investitionen, Produktion und (Massen!-)Konsum führen geradezu unweigerlich dorthin.

Wenn da bloß nicht die Endlichkeit von Ressourcen und Umwelt wäre... aber dat is ein ander Thema.

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