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  • kemmerich

mehr als 1000 Beiträge seit 11.02.2020

Re: Armut? Echt jetzt?

wasgesagtwerdensollte schrieb am 06.02.2024 17:47:

vermutlich hast du dich nur falsch ausgedrückt. Theorien sind Erklärungen, sie haben keine praktischen Auswirkungen.

Das sehe ich anders. Wenn eine überwältigende Mehrheit der Ökonomen das kranke Zeug von Hayek und den Chicago Boys zum ökonomischen Leitbild erklärt, und wenn die schwedische Reichsbank immer und immer wieder "Wirtschaftsnobelpreise" (gibt's eigentlich gar nicht) an solche neoliberalen Vollhonks vergibt, dann hat man eben bald so einen Ronald Reagan, eine Maggie Thatcher, einen Tony Blair und schließlich auch einen Schröder, der seine Wirtschaftpolitik an diesem Scheiß ausrichtet. Jedenfalls hat nicht Schröder sich diesen unfassbaren Bullshit selbst ausgedacht. Der hat sich an dem neoliberalen Modell orientiert. Er war ja auch beileibe nicht der erste.

Die "ökonomische Spaltung" - wie du es nennst - ist das, was Marx Klassen nennt. Der Lohn ist Kost, also Abzug vom Gewinn und hat deswegen niedrig zu sein = Armut.
Spaltung ist also schon immer "eingebaut".

Kapitalistische Gesellschaften sind Klassengesellschaften, das stimmt. Allerdings waren die Feudalsysteme vorher noch erheblich schlimmer, und in sozialistischen Ameisenstaaten kamen die "Bauern und Werktätigen" auch nicht besser weg. Früher musste man nur sagen: "Geh doch rüber", und dann war Schluss mit Diskutieren. Das hat schon seinen Grund...

Auf der einen Seite jene, die über Eigentum verfügen und "ihr Geld für sich arbeiten lassen" (wie es mal Berti Vogts in der Werbung sagte).

Werbung ist ja immer ein bisschen neben der Wahrheit, hier aber ganz eklatant. Geld arbeitet nicht. Es wirft ein wenig Zinsen ab, mal mehr, mal weniger. Anders ist das mit Kapital. Das ist zwar auch erstmal nur Geld, wird aber in etwas Produktives übersetzt. Unternehmen nehmen Geld in die Hand, um es in Forschung und Entwicklung zu investieren (natürlich um später einen Gewinn zu erzielen, was nicht immer klappt, aber makroökonomisch und in Summe schon) - und genau in diesem Moment wird aus totem Geld produktives Kapital. Was auch Marx aufgefallen ist, und er war regelrecht geflasht davon.

Das Blöde dabei: Es entsteht ein Verdrängungswettbewerb, der schlussendlich damit sein vorläufiges Ende findet, dass nur sehr wenige und sehr große Unternehmen ganze Branchen kontrollieren. Denn die Investitionssummen werden ja immer höher, umso hightechiger die Produkte werden, und das können nur noch die Größeren stemmen. Haben wir in den letzten 30-40 Jahren in der relativ neuen Branche IT mitverfolgen können. In den 90ern noch gab es einen bunten Markt für Hard- und Software, heute nur noch die "Big Five", die so big sind, dass sie vor lauter Kraft kaum laufen können. Mit eigenen App-Stores, zu denen es keine wirklichen Alternativen gibt. Neu ist das indes nicht: Die Top Ten des DAX sind Konzerne, die es überwiegend schon sehr lange gibt und die nicht mehr zu knacken sind. Im Kapitalismus ist die Wirtschaft also stark konzentriert, was man auch politisch nicht ändern kann; es handelt sich um einen Systemzwang.

Die Frage ist, ob man nun gut oder schlecht finden soll. Moralisch vermutlich eher schlecht, doch andererseits gibt's ohne das kein Smartphone. Wie sollen kleine und im direkten Wettbewerb stehende Unternehmen die dafür notwendigen Investitionen wuppen?

So kommt zweierlei Sorten Armut zwingend heraus: die produktive Armut ist jene Armut, bei der Lohnabhängige in Lohn und Brot stehen um das Wirschaftswachstum voranzubringen.

Sie können das WIrtschaftswachstum aber nur voranbringen, wenn sie selber konsumieren. Sonst bleiben die Produkte liegen, es kommt zur Absatzkrise. Und die ist überaus böse.

Nun ist aber genau dieses Wirtschaftswachstum das, worauf es offenbar allein ankommt. Ganz gleich wer regiert, immer geht es um Wirtschaftswachstum. Da sind die Löhne eben Kosten, die zu vermeiden sind.

Für den einzelnen Unternehmer sind Löhne i.d.R. lästig und Gewerkschaften wie eine Furunkel am Arsch. Schlaue Unternehmer wie Henry Ford wussten aber: Wenn sich die nicht unerheblichen Investitionen in Produktivitätssteigerung (Fließbandproduktion) rentieren sollen, müssen sich auch Arbeiter ein T-Modell kaufen können. Mag sein, dass vielen Unternehmern heute der Unterschied zwischen Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft immer noch nicht bekannt ist. Sie liegen aber falsch, wenn sie zu jeder Zeit immer nur den eigenen Betrieb und sonst gar nichts im Auge haben.

Früher hieß es mal, dass Proletarier kein Vaterland haben. Heute sind sie alle stolze Bürger einer Nation, die sich Sorgen um das Wohl der Nation machen, mitfiebern, wenn die Nationalmannschaft spielt usw..

Nationalstolz gab's schon immer. In der alten West-BRD konzentrierte er sich auch ganz besonders auf Fußball. Alter Hut.

Und wie lange kannst du davon leben, wenn du dein Smartphone verkaufst? Wie lange kommst du überhaupt über die Runden, wenn das Einkommen aus Lohnarbeit ausbleibt?

Dafür gibt's den Sozialstaat. Den kann man so organisieren, dass niemand richtig darben muss - kenne ich aus den 70ern, 80ern und tw. 90ern. Damals gab es auch schon Kapitalismus.

Klar gibt es heutzutage Gebrauchswerte, die vor wenigen Jahren/Jahrzehnten einer Oberschicht vorbehalten waren. Die sind aber inzwischen dank des Produktionsfortschrittes derartig billig, dass sie in den Umkreis des Zahlungsfähigkeit eines Lohnarbeiter kommen. Der ist nicht reicher geworden, Gebrauchswerte wie Smartphone sind billiger geworden.

Damit ist der Lohnarbeiter selbst aber auch wohlhabender geworden! So wie früher mit Kühlschränken, Waschmaschinen, Radios, Fernsehern, und, und und.

Der durchschnittliche Lohnarbeiter verdient nicht genügend Geld, als dass er im Alter würdevoll leben könnte.

Das ist falsche Politik, das ist das neoliberale Paradigma. Es muss nicht notwendigerweise so sein. Wenn die wahlentscheidende "Mitte" sowas aber immer wieder wählt, kann der Kapitalismus auch nix dafür.

Schon die in der Steinzeit übliche Reproduktion (Wohnen und Kinder), ist für viele Lohnarbeiter einer echte Herausforderung, an der nicht wenige scheitern.

Willst du in der Steinzeit leben? Echt jetzt? Mann, was vergleichst du da eigentlich? Die Menschen "wohnten" nicht, sie hatten ein Zelt aus Tierhäuten überm Kopf!

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