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  • mc bad

441 Beiträge seit 25.07.2001

nur fragen wieder mal

Der Sozialismus als „eine höhere Produktions- und Zivilisationsform“
(Boron). Das kennen wir doch irgendwoher. Und zwar aus dem
ML-Seminar: Der Sozialismus als objektiv notwendige Überwindung des
der kaptalistischen Produktionsweise eigenen
Grundwiderspruchs...blablabla. Die Frage ist eben, mit welchem
philosophischen Fernrohr ich in die Zukunft blicke. Einem Marxisten
ist alles klar wie Kloßbrühe, weil gesetzmäßig. Als Kantianer kann
ich gar nichts wissen. Und ein Systemtheoretiker würde sagen, dass
Widersprüche nicht durch die Zerstörung der Struktur, sondern durch
den Einbau in sie als stabilisierendes Strukturelement gelöst werden.
Das nur mal dazu. 

Klar, ob eine Gesellschaft mit so erheblichen, ressource- und
verbrauchsbedingten „Stoffwechselstörungen“ wie der unseren ihr
ökonomisches Plus-Ultra-Credo noch lange vor sich hertragen kann, ist
zu bezweifeln. Ob nun aber der Sozialismus die „höhere Produktions-
und Zivilisationsform“, sein kann, ist angesichts der gescheiterten
realsozialistischen Experimente ebenfalls fraglich. Man kann’s aber
noch mal versuchen. 
Marx’ Einspruch gegen die kapitalistische und vornehmlich
angelsächsische Produktionsweise zielte ja  vor allem auch darauf, 
die privatkapitalistischen Produktionsverhältnisse zu zerschlagen, um
die Produktivkräfte erst wirklich zu entfesseln. Der
englische/amerikanische Kapitalismus seiner Zeit ist die Folie, auf
der Marx seine utopische Gesellschaftslehre schreibt – ganz
Hegelianer, verstand er diesen Prozess als eine  Entwicklung vom
Niederen zum Höheren. Wobei die allen Sozialutopien eigene
Grundannahme der  Denkfehler ist: Vom Standpunkt der Zukunft sieht
nämlich jede Vergangenheit  aus wie das Unvollständige, das
Unentwickelte, das Unvollkommene. Die beste Kritik dieser Utopien hat
Hans Jonas im „Prinzip Verantwortung“ vorgebracht.

Man  kann sich ja versuchsweise mal sowohl vom angelsächsischen wie
vom sozialistischen Ökonomieverständnis lösen und die Ökonomie von
ihren Ressourcen her und auf ihre Ressourcen hin denken, denn
„überhaupt gar nicht mit Summen hat es die Nationalökonomie zu thun,
sondern mit Quellen“. (Friedrich B. W. von Hermann:
Staatswirtschaftliche Untersuchungen, 1832). Darin wäre die
Vorstellung von der Hebung des „allgemeinen Vermögens“ (Hegel)
genauso zu berücksichtigen wie das alte preußische Prinzip: Alle zu
heben, und niemanden sacken zu lassen. 

Grundtenor der deutschen Theoretiker der Nationalökonomie  war nicht
die Befriedigung der Bedürfnisse – es ging darum, die Bedingungen
dazu und die Ressourcen dafür zu sichern. Diese in der
angelsächsischen Nationalökonomie als antiliberal denunzierte Haltung
gehört noch mal auf den Tisch. Birger P. Priddat nennt sie die
„sublunare Theoriefigur“ einer Ökonomie, die vornehmlich auf dem
Gedanken der Korporationswirtschaft beruhte (Birger B. Priddat: Die
andere Ökonomie, Marburg 1995). Die preußische Ökonomie war ein
Wirtschaften, dem selbst R. Sennet seinen Respekt zollt: „Es
funktionierte ja. Immerhin sorgte es für soziale Integration… das
Modell bildete einen bemerkenswerten Gegensatz zum Kapitalismus von
heute, der Menschen nicht einbezieht, sondern ausschließt… Es diente
den gewöhnlichen Leuten, indem es ihnen eine Lebensgeschichte gab;
sie wußten, wo sie hingehörten. Doch im ausgehenden 20. Jahrhundert
zerfiel es.“

Sennets melancholische Replik wirft Fragen auf, die zu stellen heute 
politisch inkorrekt ist, deren Beantwortung aber Lösungsansätze
enthält, wie sie weder das allein auf  privaten Profit ausgerichtete
angelsächsische Wirtschaftsmodell noch Theorien oder Modelle der
Vergesellschaftung des Privateigentums geben können. 

Die Frage ist erstens: wie war eine Ökonomie (die deutsche nämlich)
beschaffen, die es nicht nur „erlaubte“, innerhalb eines Zeitraum von
nicht mal fünfzig Jahren gegen Wirtschaftsnationen zu kämpfen  (die
angeblich moderner und flexibler aufgestellt waren), und die nach der
totalen Niederlage von 1945 keine 20 Jahre brauchte, um sich mehr als
zu erholen; die Frage ist auch deshalb interessant, weil z. B.
England oder Frankreich anders als Westdeutschland bis in die 60er
ein koloniales Hinterland hatten, aus dem nicht nur Ressourcen in
ungeahntem Ausmaß zuflossen, von hier aus wurden auch Märkte
kontrolliert. 

(Die Frage, wie die deutsche Ökonomie von der inneren Struktur ihrer
Akteure und Wirtschaftskollektive her beschaffen war, bezieht sich
auch auf die Wirtschaft der DDR, die eher preußischer Sozialismus als
Sowjetmodell war, und deren Absturz  abzusehen war, als der  „große
Bruder“, die Schlüsselindustrie abmontiert und dem damit verbundenen
Know-how den Gegenstand geraubt und die Zukunft verstellt hatte. Was
nach dem Zusammenbruch des Soz. in DDR noch funktionsfähig war, war
ein – ja, wie paradox – der preußischen, eben auch korporativ
gedachten paideía nicht unähnliches Bildungsverständnis. Was auch die
Frage beantwortet, weshalb Ingenieure und Techniker aus dem Osten
immer begehrtes „Humankapital waren. (Warum man diese „Morgengabe“
seit der Vereinigung systematisch verschleudert, steht auf und in
einem anderen Blatt). 

Die Frage ist zweitens, ob eine Nationalökonomie mit
korporativistischer
Besonderheiten mit dem Sieg des angelsächsischen Modells nach 1945
(endültg nach 1989)  widerlegt war oder ob nicht erst die
gesetzgeberische Zurichtung Deutschlands für die „internationalen
Kapitalmärkte“ in den 90ern einen Ökonomiewahn auslöste, der
vielfältige, noch intakte, notfalls  und möglicherweise
konversionsfähige industrielle Infrastrukturen zerschlug. Denn danach
erst begann das allseits bekannte Ausschlachten von Unternehmen durch
Private Equity Funds.

Die Frage ist drittens –  um eine Formulierung von Werner Abelshäuser
aufzunehmen: Ob mit der „ Beseitigung korporativistischer
Besonderheiten des deutschen Wirtschaftssystems“ ( die „weit oben auf
der Liste amerikanischer Kriegsziele stand“) nicht auch ein Weg
verschüttet wurde, wie er heute noch gangbar wäre. Oder ob die
einzige  Alternative wirklich ein Sozialismus sein kann.

P.S. Völlig unergiebig bzgl. Korporativistischer Wirtschaftsmodelle
sind die armseligen Einlassungen auf wikipedia. Die Beiträge sind
dermaßen ideologisch eingetrübt, dass es den Hund jammert. Der
Nationalökonom Adam Müller (1779-1829) z.B. ist hier ein
„präfaschistischer Theoretiker“.

Auch mit Anmerkungen wie: „das korporative System fand seine
deutlichste Anwendung im italienischen Faschismus. Portugal unter
Salazar und Brasilien Vargas trugen korporativistische Züge“ kommt
man nicht wirklich weiter.

Noch ein Link: "Des Kaisers neue Kleider?" Darstellung der Geschichte
der Sozialen Marktwirtschaft von Prof. Dr. Werner Abelshauser:
http://www.romanherzoginstitut.de/uploads/tx_mspublication/RHI-Positi
on_7_Abelshauser.pdf
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