Christian Gapp schrieb am 25. November 2005 21:04
> Es gibt in Deutschland derzeit zwei Pawlow'sche Reflexe:
>
> 1.) Wenn es um Reformen geht, einschneidende Opfer von allen zu
> fordern, die dann letztendlich doch nicht alle betreffen, zumindest
> nicht alle im gleichen Umfang.
>
> 2.) Von Neid zu reden, wenn man von denen Opfer fordert, die bei (1.)
> erst einmal ausgeklammert wurden (manchmal durch andere, meist jedoch
> infolge eigener, subtiler Einflussnahme).
>
> Das Neidargument dient vor allem der Besitzstandswahrung. Nehmen wir
> einmal als Beispiel die Finanzbeamten. Es ist schlichtweg
> ungeheurlich, dass ein Heer von Steuerbeamten damit beauftragt ist,
> in Deutschland das unbestritten komplizierteste Steuersystem der Welt
> zu exekutieren, ohne dass dem ein wirtschaftlicher Standortvorteil
> gegenüber stünde. Im Gegenteil: Unser Steuerrecht ist ein
> internationaler Standortnachteil par excellence - und paradoxer Weise
> widerspricht dem praktisch niemand.
Eine deutsche Regierungsdelegation soll in Japan für den Standort
Deutschland geworben haben. Dummerweise haben die Japaner schon von
unserem Steuerrechtsirrsinn vernommen (erscheinen wirklich 80% der
Veröffentlichung zum Steuerrecht in der EU auf deutsch?). Der
Regierungsdelegation soll es nicht möglich gewesen sein, unser
Steuer"recht" zu vermitteln. Sie soll mit der Aussage kapituliert
haben, dass die Sache mit guten Anwälten runterzurechnen wäre.
Die Quelle ist mir entfallen.
> Das Einsparpotential von 80 Milliarden Euro, von denen
> Wirtschaftsinstitute im Zusammenhang mit dem deutschen Steuerrecht
> reden, sind vor allem Transferkosten, also Kosten, die bei der
> Verwaltung und dem Zurechtkommen mit den komplizierten Vorgaben
> verursacht werden. Und was macht das neue Kabinett am ersten
> Arbeitstag? Es beschließt, dass zukünftig die Kosten für
> Steuerberater nicht mehr von der Steuer absetzbar sind.
>
> Hallo? Jemand zu Hause?
Genau das war auch mein Gedanke.
> Sobald die eigenen finanziellen
> Rahmenbedingungen über die Verwaltung eines Sparkonto hinaus gehen,
> benötigt man, zumindest zeitweise, die Unterstützung eines Profis.
Was ein Unding ist. Gesetze sollen einfach und klar sein, so habe ich
irgendwo einmal gelernt. Und nicht ein erst durch
Finanzgerichtsurteile interpretiertes Chaos. Da finden sich nicht
einmal mehr Steuerprüfer über ihren Spezialbereich hinaus zurecht.
Das dem Bürger zuzumuten ist einfach kafkaesk.
"Wo leben wir eigentlich? Absurdistan" schrieb ein Forumsteilnehmer
in anderem Zusammenhang.
> Das gilet in besonderer Weise für Selbstständige und Unternehmen.
Ein selbstständiger Handschlag in diesem Land zieht die Verstrickung
in einem Gewirr von Vorschriften nach sich, deren schlichte Kenntnis
einem Einzelnen einfach unmöglich ist. "Augen zu" und hoffen, dass
nichts schiefgeht. Oder die Sache gleich sein lassen. Sowohl Apple
wie Microsoft wären hierzulande schlicht an der Gewerbeaufsicht
gescheitert. Aber auch in Mitgliedsstaaten der EU geht's erheblich
lockerer zu. An die "Neuen" auf einem gemeinsamen Markt denke ich
dabei nicht einmal, sondern an Frankreich, Belgien, Dänemark und
Schweden.
> Die
> hohe Anzahl von Steuerberatern ist somit eine Folge des komplizierten
> Steuerrechts. Aber Merkels neue Truppe setzt natürlich genau da an,
> wo es dem Beamtenapparat nicht weh tut: Nicht das Steuerrecht wird
> vereinfacht - und so der primäre Bedarf an Steuerberatern verringert
Die sich nach meinem Eindruck lieber mit interessanteren Fragen der
Wirtschaftsberatung beschäftigen würden. Zufrieden mit dem
überbordenden Steuerrecht scheinen sie mir nicht.
Auch den Finanzbeamten wäre es sicher lieber, ein einfaches
Steuerrecht dann aber konsequent durchzusetzen.
> - sondern die, die einen Steuerberater infolge des komplizierten
> Steuerrechts benötigen, dürfen die Kosten zukünftig einfach nicht
> mehr absetzten. Opfer bringen also immer die anderen, nie die
> herrschenden Beamten. Ist diese Feststellung Neid? Wohl gemerkt: Die
> Entscheidung fiel am ersten Arbeitstag des Kabinetts.
Naja, die Vereinfachung des Steuerrechts wäre für ganze Branchen
schwierig. Vermutlich würde der tertiäre Sektor einen erheblich
Dämpfer erhalten, unsere Volkswirtschaft würde sich durch den dann
anteilig gestärkten primären und sekundären Sektor womöglich als
weniger fortschrittlich darstellen. ;-\
Zu "herrschenden Beamten": noch herrscht das Parlament. Wobei sicher
ein Kurzschluss in der Gewaltenteilung besteht, da Vertreter der
Exekutive und Juridikative überproportional in der Legislative
vertreten sind. Zudem werden durch die Legislative erlassene Gesetze
nicht selten erst durch Durchführungsverordnungen der Exekutive
ausgefüllt oder sind so schlecht formuliert, dass es der
Interpretation durch die Juridikative bedarf. Was ein Unding ist.
Wie hoch ist der Anteil von Arbeitern, Angestellten oder Unternehmern
aus klein- bis mittelständischen Unternehmern in den Parlamenten von
Bund und Ländern?
Dieses "Kleinvieh" macht den Mist, die "sind Deutschland". Die
arbeiten länger und härter für erheblich weniger Geld, als das was
bei Metallern und Beamten skandalisiert wird. Die politische
Diskussion in Deutschland richtet sich nach der Macht der
Interessenvertretungen, nicht nach der Zahl der tatsächlich
Betroffenen. Konzerne und Gewerkschaften. Überholte
Klassenkampfdenke, der "seriöse Kapitalismus süddeutscher Handwerker
und Bauern" (frei nach Wladimir Kaminer) fällt einfach unter den
Tisch.
In Frankreich soll die Mehrwertsteuer für das Handwerkwerk gesenkt
worden sein.
> Wenn der erste Arbeitstag richtungsweisend sein sollte für die Arbeit
> der großen Koalition, dann sollte man wohl zukünftig von einem
> "Merkeltekel" reden.
Auch wenn ich mich über unsere Bundeskanzlerin freue: darüber habe
ich mich sehr geärgert.
> Es gibt in Deutschland derzeit zwei Pawlow'sche Reflexe:
>
> 1.) Wenn es um Reformen geht, einschneidende Opfer von allen zu
> fordern, die dann letztendlich doch nicht alle betreffen, zumindest
> nicht alle im gleichen Umfang.
>
> 2.) Von Neid zu reden, wenn man von denen Opfer fordert, die bei (1.)
> erst einmal ausgeklammert wurden (manchmal durch andere, meist jedoch
> infolge eigener, subtiler Einflussnahme).
>
> Das Neidargument dient vor allem der Besitzstandswahrung. Nehmen wir
> einmal als Beispiel die Finanzbeamten. Es ist schlichtweg
> ungeheurlich, dass ein Heer von Steuerbeamten damit beauftragt ist,
> in Deutschland das unbestritten komplizierteste Steuersystem der Welt
> zu exekutieren, ohne dass dem ein wirtschaftlicher Standortvorteil
> gegenüber stünde. Im Gegenteil: Unser Steuerrecht ist ein
> internationaler Standortnachteil par excellence - und paradoxer Weise
> widerspricht dem praktisch niemand.
Eine deutsche Regierungsdelegation soll in Japan für den Standort
Deutschland geworben haben. Dummerweise haben die Japaner schon von
unserem Steuerrechtsirrsinn vernommen (erscheinen wirklich 80% der
Veröffentlichung zum Steuerrecht in der EU auf deutsch?). Der
Regierungsdelegation soll es nicht möglich gewesen sein, unser
Steuer"recht" zu vermitteln. Sie soll mit der Aussage kapituliert
haben, dass die Sache mit guten Anwälten runterzurechnen wäre.
Die Quelle ist mir entfallen.
> Das Einsparpotential von 80 Milliarden Euro, von denen
> Wirtschaftsinstitute im Zusammenhang mit dem deutschen Steuerrecht
> reden, sind vor allem Transferkosten, also Kosten, die bei der
> Verwaltung und dem Zurechtkommen mit den komplizierten Vorgaben
> verursacht werden. Und was macht das neue Kabinett am ersten
> Arbeitstag? Es beschließt, dass zukünftig die Kosten für
> Steuerberater nicht mehr von der Steuer absetzbar sind.
>
> Hallo? Jemand zu Hause?
Genau das war auch mein Gedanke.
> Sobald die eigenen finanziellen
> Rahmenbedingungen über die Verwaltung eines Sparkonto hinaus gehen,
> benötigt man, zumindest zeitweise, die Unterstützung eines Profis.
Was ein Unding ist. Gesetze sollen einfach und klar sein, so habe ich
irgendwo einmal gelernt. Und nicht ein erst durch
Finanzgerichtsurteile interpretiertes Chaos. Da finden sich nicht
einmal mehr Steuerprüfer über ihren Spezialbereich hinaus zurecht.
Das dem Bürger zuzumuten ist einfach kafkaesk.
"Wo leben wir eigentlich? Absurdistan" schrieb ein Forumsteilnehmer
in anderem Zusammenhang.
> Das gilet in besonderer Weise für Selbstständige und Unternehmen.
Ein selbstständiger Handschlag in diesem Land zieht die Verstrickung
in einem Gewirr von Vorschriften nach sich, deren schlichte Kenntnis
einem Einzelnen einfach unmöglich ist. "Augen zu" und hoffen, dass
nichts schiefgeht. Oder die Sache gleich sein lassen. Sowohl Apple
wie Microsoft wären hierzulande schlicht an der Gewerbeaufsicht
gescheitert. Aber auch in Mitgliedsstaaten der EU geht's erheblich
lockerer zu. An die "Neuen" auf einem gemeinsamen Markt denke ich
dabei nicht einmal, sondern an Frankreich, Belgien, Dänemark und
Schweden.
> Die
> hohe Anzahl von Steuerberatern ist somit eine Folge des komplizierten
> Steuerrechts. Aber Merkels neue Truppe setzt natürlich genau da an,
> wo es dem Beamtenapparat nicht weh tut: Nicht das Steuerrecht wird
> vereinfacht - und so der primäre Bedarf an Steuerberatern verringert
Die sich nach meinem Eindruck lieber mit interessanteren Fragen der
Wirtschaftsberatung beschäftigen würden. Zufrieden mit dem
überbordenden Steuerrecht scheinen sie mir nicht.
Auch den Finanzbeamten wäre es sicher lieber, ein einfaches
Steuerrecht dann aber konsequent durchzusetzen.
> - sondern die, die einen Steuerberater infolge des komplizierten
> Steuerrechts benötigen, dürfen die Kosten zukünftig einfach nicht
> mehr absetzten. Opfer bringen also immer die anderen, nie die
> herrschenden Beamten. Ist diese Feststellung Neid? Wohl gemerkt: Die
> Entscheidung fiel am ersten Arbeitstag des Kabinetts.
Naja, die Vereinfachung des Steuerrechts wäre für ganze Branchen
schwierig. Vermutlich würde der tertiäre Sektor einen erheblich
Dämpfer erhalten, unsere Volkswirtschaft würde sich durch den dann
anteilig gestärkten primären und sekundären Sektor womöglich als
weniger fortschrittlich darstellen. ;-\
Zu "herrschenden Beamten": noch herrscht das Parlament. Wobei sicher
ein Kurzschluss in der Gewaltenteilung besteht, da Vertreter der
Exekutive und Juridikative überproportional in der Legislative
vertreten sind. Zudem werden durch die Legislative erlassene Gesetze
nicht selten erst durch Durchführungsverordnungen der Exekutive
ausgefüllt oder sind so schlecht formuliert, dass es der
Interpretation durch die Juridikative bedarf. Was ein Unding ist.
Wie hoch ist der Anteil von Arbeitern, Angestellten oder Unternehmern
aus klein- bis mittelständischen Unternehmern in den Parlamenten von
Bund und Ländern?
Dieses "Kleinvieh" macht den Mist, die "sind Deutschland". Die
arbeiten länger und härter für erheblich weniger Geld, als das was
bei Metallern und Beamten skandalisiert wird. Die politische
Diskussion in Deutschland richtet sich nach der Macht der
Interessenvertretungen, nicht nach der Zahl der tatsächlich
Betroffenen. Konzerne und Gewerkschaften. Überholte
Klassenkampfdenke, der "seriöse Kapitalismus süddeutscher Handwerker
und Bauern" (frei nach Wladimir Kaminer) fällt einfach unter den
Tisch.
In Frankreich soll die Mehrwertsteuer für das Handwerkwerk gesenkt
worden sein.
> Wenn der erste Arbeitstag richtungsweisend sein sollte für die Arbeit
> der großen Koalition, dann sollte man wohl zukünftig von einem
> "Merkeltekel" reden.
Auch wenn ich mich über unsere Bundeskanzlerin freue: darüber habe
ich mich sehr geärgert.