Nein, der Kapitalismus "stiftet" nicht unmittelbar Freiheit, aber er ist ihr wichtigster Gewährträger.
Kapitalismus ist nur Gewährsträger von Freiheit, die man sich leisten kann. Das beginnt nicht beim Wohnen und endet nicht beim Lebensunterhalt.
Gerechtigkeit kann aber nur dann existieren, wenn es grundsätzlich eine weitgehend freie Möglichkeit zur eigenwirtschaftlichen Betätigung gibt.
Nur dann, wenn man voraussetzen würde, dass alle Menschen gleich sind und gleiche Voraussetzungen (genetisch, finanziell, etc.) haben. In jedem anderen Fall gewährt Kapitalismus vieles, aber ganz sicher keine Gerechtigkeit.
Und außerdem - was ist schon Gerechtigkeit?
Eine gute Frage. Dieselbe Frage muss man für "Freiheit" stellen. Denn für jeden bedeuten BEIDE Begriffe etwas völlig anderes. Für den Einen ist es Freiheit, in alle Welt reisen zu können. Für den Anderen ist es Freiheit, sich um seine Daseinsfürsorge keine Sorgen machen zu müssen.
Und Gerechtigkeit wäre in diesem Kontext wohl das "Leben und leben lassen.". ;)
Dummerweise gewährt der Kapitalismus aber nur "finanziell lohnende Freiheiten": Reisen geht in Ordnung, denn das bringt Geld. Ein - daseinsfürsorglich betrachtet - sorgloses Leben nicht, denn das kostet Geld.
Ein waschechter Linker kann diesen Begriff doch sowieso immer nur unter dem Aspekt der totalen Verteilungsgerechtigkeit sehen.
Dann sind dir in deinem Leben vermutlich sehr wenige "waschechte Linke" begegnet. Jene, die mir begegneten, stellen gar nicht in Abrede, dass es Luxus geben kann. Doch der ist, das verlangen die Waschechten unter den Linken, vom Dasein zu entkoppeln. Er darf nicht auf Kosten des Daseins realisiert werden.
Diese betet er götzengleich an.
Es gab da mal, das mag so gute 15 Jahre her sein, einen Artikel im Stern mit dem Titel "Und der Markt ist Gott geworden". Danach scheinen einige Journalisten reflektiert zu haben, denn in der Folge erschienen zahlreiche Artikel mit ähnlich lautenden Überschriften. Etwa jener hier:
Geburt einer Weltreligion: Und der Markt ist Gott geworden
https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/geburt-einer-weltreligion-und-der-markt-ist-gott-geworden-a-425528.html
Du musst darauf nicht reagieren. Aber lesen und reflektieren ist sicherlich nützlich. Auch im Namen der vielbeschworenen Bildung.
Normal denkende Menschen kennen noch viele weitere Gerechtigkeitsprinzipien ohne zwingenden Universalitätsanspruch. Leistungsgerechtigkeit zum Beispiel. Jemand der mehr tut als als andere, fleißiger ist, der soll auch mehr als die anderen haben. Es wird nicht als gerecht und als amoralisch empfunden, ihm alles wegzunehmen um ihn im Ergebnis genau so schlecht dastehen zu lassen wie alle anderen.
Das gilt nur, wenn man im engen Rahmen eines Tunnelblicks reflektiert.
Stelle dir mal für eine Sekunde vor, du würdest nicht mit Geld, sondern mit gesellschaftlicher Anerkennung bezahlt. Das versucht man auch im Kapitalismus; nur dass man sich da die gesellschaftliche Anerkennung zumeist mit Geld kauft. So weit weg von natürlichem Habitus ist diese Vorstellung also gar nicht.
Aber plötzlich bekommen die Dinge einen völlig neuen Wert, nicht wahr. Dann zählt auf einmal nicht mehr "Mein Haus, mein Boot, mein Auto, meine Frau, ..." Dann zählt, was man zum Wohle der Gesellschaft wirklich leistet ... also WAHRE LEISTUNGSGERECHTIGKEIT, denn sie wäre unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit oder den Beziehungen.
Das "Working Poor"-Phänomen wird in diesem Kontext z. B. massiv unterschätzt. Es entsteht aber nicht, so die klassische Annahme, durch zu wenig Umverteilung, sondern vor allem durch "zu viel"...
Du hast wirklich keinen Plan, hm?! Die Steuern für die unteren Schichten sind in den USA beispielsweise ziemlich übersichtlich. Da man sich zudem diese ganzen "Sozialabgaben" weitestgehend spart, wird es auch im Rest der Abgabenseite sehr, sehr übersichtlich. Trotzdem sind die USA eines der herausragenden Länder unter den Top-Industrieländern in Bezug auf Working Poor: Nur einer von vier Arbeitnehmern ist imstande, Sonderausgaben von ab 400 Dollar ohne Neuverschuldung zu realisieren. Und das bei teilweise drei, vier Jobs gleichzeitig und täglichen Arbeitszeiten von bis zu 20 Stunden (im Regelfall eher 12-16 Stunden).