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  • derJ

mehr als 1000 Beiträge seit 12.05.2005

Re: Haltung des Geistes

Nun, ein gemäßigter Konstruktivismus scheint Dir schon kategorisch ausgeschlossen. Das Kategorische scheint mir verdächtig. Der gesunde Menschenverstand, um dessen Definition es wohl dann geht, kennt Kant. Der formulierte "kategorische Imperativ" besagt, daß die Maximen unseres eigenen Handelns dann legitim sind, wenn sie als Maximen (Ideale, Leitbilder) allen Handelns gelten können.

Ist denn nun die Wissenschaft und Technik, die _unser_ Leben so bequem, so berechenbar, verwaltbar und kontrollierbar gemacht hat und eine "Ordnung" der Welt gebracht hat, auch die Methodik, ein gutes und friedliches Zusammenleben zu organisieren?

Wo sind die Formeln, die Verfahren? Warum ist ein möglichst langes Leben ein gutes Leben? Wer profitiert von toller Technik, wenn sie nicht allen zur Verfügung steht? Sind die ganzen Apparate, die unsere Welt und uns beherrschen, nicht Prothesen, die auch der eigenen Überhöhung dienen? Eine letztlich rassistische Sicht, die die "wilden Naturvölker" in ihrer Lebensweise als minderwertig, unterentwickelt, weniger intelligent erachtet, DAMIT sie gewissenlos unterdrückt und ausgebeutet werden können?

Der "aktuelle Erkenntnisstand" ist, daß die alte Mär von einer Gehirn-Hardware, die weitestgehend unabhängig von Entwicklung, Umfeld und psychosozialen Faktoren "funktioniert", dem Gruselkabinett von NS-Ideologen entstammt, Thema

http://www.fromm-gesellschaft.eu/index.php/de/publikationen-blog/rezensionen/384-andreas-peglau-unpolitische-wissenschaft-wilhelm-reich-und-die-psychoanalyse-im-nationalsozialismus

Das ist die Geschichte unserer Vorfahren, sie ist noch jung. Wunden noch lange nicht verheilt. Ist die technische (!) Überlegenheit, die ohne jeden Zweifel die Lebensumstände aller Menschen verbessert hat, aber auch Legitimation, sie zum Gott zu machen, zur Maxime, ihren Fortschritten alles Handeln unterzuordnen?

Der Streit geht auf Platon und Aristoteles zurück. Atom, Teilchen, Urteilchen, Urteil. Suchen wir das letzte Atom, das "die Welt im Innersten zusammenhält" oder das letzte Urteil? Das Recht, die Gewissheit? Tragen wir Verantwortung? Suchen wir lieber die Antworten, die uns von Verantwortung freisprechen...?

Die Geistes- arbeiten gegen die Naturwissenschaften und umgekehrt, dabei liegen ihre offenen Fragen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Feld der jeweils anderen Disziplin.. Aber das Höhnen und Tönen über "das Fremde" schützt gut vor jedem Sonnenstrahl, der in die Echokammern der mentalen Vereinsheime zu dringen droht. Mit Verlaub.

Das Postulat, die Wissenschaft sei auch stets mit der Wahrheitsfindung (vgl. philosophischer Erkenntnis-Begriff, Letztbegründung) beschäftigt, kann böse Folgen haben. Bei Kunst und Kultur versagt ihr Urteil kläglich, ja macht kaputt. Es war auch einmal "wissenschaftlich bewiesen", daß Juden allein genetisch bedingt minderwertige Menschen sind... Der Glaube (!) an so einen Schwachsinn, der im Namen der Wissenschaft einfach behauptet wurde, steht fortschrittlichen Menschen nicht gut, die gesellschaftliche Entwicklungsphasen der Säkularisierung und Aufklärung durchschritten zu haben für sich beanspruchen.

Darin besteht eine Haltung des Geistes, die nicht zuletzt den Grund gab, Europa die Weitsichtige zu nennen. Das kritische Denken muss vorgestanzte Denkschablonen und Vorurteile der Presse ablehnen, die sich so oft auf die "fröhliche Wissenschaft" (Nietzsche) beruft. Gesund mit Kant in 14 Tagen. Etwas länger könnte die Kur natürlich schon dauern, denn auch die Redekuren des Doktor Freud sollten in ihrer Heilsamkeit nicht unterschätzt bleiben, wie auch die richtige Wahl eines vertrauensvollen Redepartners.

Sapere aude. Und wer den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes entgegen aller "Wissenschaft" zu bedienen, liest auch Freud im Kontext seiner Zeit und versteht, was Herz und Kopf verbindet, was dem Kopf unverständlich bleiben muss, wenn er jeglichem Gefühl, Sentiment, Spontanität, aber auch Schmerz, Trauer, Wut und damit letztlich auch der Freude von vorneherein so große Schranken setzt, weil es "unwissenschaftlich", unberechenbar, nutzlos, ineffizient oder vermeintlich unproduktiv ist. Der Disput ist uralt. Er findet sich, sicherlich in seltener Präzision (einer könnte von Wissenschaftlichkeit sprechen..), Größe und Erhabenheit formuliert, in Schillers Reflektion über den "alten Weisen" Kant, dessen "unerbittliche" Moralphilosophie über die Strenge geschlagen sein mag (*scnr). Zur Exegese..

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_die_%C3%A4sthetische_Erziehung_des_Menschen#Bewusstseinsphilosophie

"Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen."
Goethe

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