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  • the observer

mehr als 1000 Beiträge seit 18.07.2001

Re: Haltung des Geistes

derJ schrieb am 10.08.2016 12:07:

Nun, ein gemäßigter Konstruktivismus scheint Dir schon kategorisch ausgeschlossen.

Was nennst Du einen gemäßigten Konstruktivismus? Und welche Vorzüge hätte er gegenüber dem von mir präferierten Naturalismus?

Das Kategorische scheint mir verdächtig. Der gesunde Menschenverstand, um dessen Definition es wohl dann geht, kennt Kant. Der formulierte "kategorische Imperativ" besagt, daß die Maximen unseres eigenen Handelns dann legitim sind, wenn sie als Maximen (Ideale, Leitbilder) allen Handelns gelten können.

Kants Maxime scheint Dir also verdächtig... Weshalb argumentierst Du dann mit ihm?

Aber was hat das mit der philosophischen Weltsicht zu tun?

Ist denn nun die Wissenschaft und Technik, die _unser_ Leben so bequem, so berechenbar, verwaltbar und kontrollierbar gemacht hat und eine "Ordnung" der Welt gebracht hat, auch die Methodik, ein gutes und friedliches Zusammenleben zu organisieren?

Das kann sie nicht leisten, aus dem Sein kann nicht auf das Sollen geschlossen werden. Sie kann aber Beiträge und Anregungen liefern. Indem sie - ich picke mal wahllos das Beispiel heraus, was mir als erstes einfällt - belegt, daß Homosexualität weder eine Krankheit noch ein abnormes Verhalten noch unnatürlich ist, sonden einfach eine Laune der Natur, ein in einerm ganz bestimmten Punkt abweichendes, aber keineswegs besorgniserregendes Verhalten.

Die Wissenschaft hat unser Leben im übrigen nicht berechenbarer gemacht; es ist unverändert unberechenbar und unplanbar.

Wo sind die Formeln, die Verfahren? Warum ist ein möglichst langes Leben ein gutes Leben? Wer profitiert von toller Technik, wenn sie nicht allen zur Verfügung steht? Sind die ganzen Apparate, die unsere Welt und uns beherrschen, nicht Prothesen, die auch der eigenen Überhöhung dienen? Eine letztlich rassistische Sicht, die die "wilden Naturvölker" in ihrer Lebensweise als minderwertig, unterentwickelt, weniger intelligent erachtet, DAMIT sie gewissenlos unterdrückt und ausgebeutet werden können?

Du holst ziemlich weit aus. Die erste Frage ist eine an die Naturwissenschaften, die zweite eine an die Philosophie, die dritte eine an die Gesellschaft, an uns Menschen. Und Du meinst die Wissenschaft zu kritisieren, in Wirklichkeit aber kritisierst Du die Unzulänglichkeiten der Menschen, projizierst die aber unfairerweise auf die Wissenschaften.

Die Gefahr des Mißbrauchs der wissenschaftlichen Erkenntnisse besteht immer und bestand auch schon früher, als es den Begriff der Wissenschaften noch nicht gab, Menschen sich aber bereits primitiver Techniken bedienten. Was sich im Lauf der Jahrtausenden geändert hat, sind die Folgen solcher Mißbräuche. Eine Atombombe kann eben weitaus mehr Menschen töten als ein Speer - allein die Intentionen der Menschen dahinter sind unverändert die gleichen geblieben.

Der "aktuelle Erkenntnisstand" ist, daß die alte Mär von einer Gehirn-Hardware, die weitestgehend unabhängig von Entwicklung, Umfeld und psychosozialen Faktoren "funktioniert", dem Gruselkabinett von NS-Ideologen entstammt, Thema

http://www.fromm-gesellschaft.eu/index.php/de/publikationen-blog/rezensionen/384-andreas-peglau-unpolitische-wissenschaft-wilhelm-reich-und-die-psychoanalyse-im-nationalsozialismus

Das habe ich auch nicht angezweifelt, sondern den von Dir erwähnten Materie-Geist-Dualismus.

Das ist die Geschichte unserer Vorfahren, sie ist noch jung. Wunden noch lange nicht verheilt. Ist die technische (!) Überlegenheit, die ohne jeden Zweifel die Lebensumstände aller Menschen verbessert hat, aber auch Legitimation, sie zum Gott zu machen, zur Maxime, ihren Fortschritten alles Handeln unterzuordnen?

Ich kann Dir diese Frage höchstens symbolisch beantworten, denn der GOttesgedanke ist für mich ein fremder. Es bleibt eine beklagenswerte Tatsache, daß die Entwicklung des Menschen aus ethischer Sicht mit der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung nicht Schritt halten kann. Aber sind es denn nicht vor allem die Nutznießer, die Anwender von Wissenschaft und Technik, die sie vergöttern?

Aber auch der Begriff des Fortschritts hat sich im Lauf der Jahrhunderte stark gewandelt. Ursprünglich aus der Aufklärung gekommen, verstand man darunter einst ein "regulatives Ideal und erstrebenswertes Modell, als eine von den Unzulänglichkeiten und Irrwegen des Denkens und Handelns stets bedrohte Möglichkeit" (Massimo Luigi Salvadori), heute dagegen versteht man ihn als einen "notwendigen, dem Wesen und Wirken der menschlichen Entwicklung immanenten Prozeß, dem man sich nicht dauerhaft entgegenstellen könne" (Salvadori).

Letzteres ist aber ein Prozeß, der vor allem von der Wirtschaft vorangetrieben wird, und sie meinen damit vor allem permanent steigende Produktion, steigenden Konsum, steigende Umsätze und Gewinne. Einen Stillstand kann es in den Naturwissenschaften insofern nicht geben, als daß laufend neue Erkenntnisse gewonnen werden, und wenn man Forschritt mit Erkenntnisgewinn antizipiert, liegt man da völlig richtig.

Der Streit geht auf Platon und Aristoteles zurück. Atom, Teilchen, Urteilchen, Urteil. Suchen wir das letzte Atom, das "die Welt im Innersten zusammenhält" oder das letzte Urteil? Das Recht, die Gewissheit? Tragen wir Verantwortung? Suchen wir lieber die Antworten, die uns von Verantwortung freisprechen...?

Sicher tragen wir Verantwortung. Und - das ist die Ironie dieser Diskussion - bist Du darum bemüht, genau das zu tun, nämlich diese Verantwortung von den Menschen auf die Wissenschaften zu delegieren.

Die Geistes- arbeiten gegen die Naturwissenschaften und umgekehrt, dabei liegen ihre offenen Fragen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Feld der jeweils anderen Disziplin.. Aber das Höhnen und Tönen über "das Fremde" schützt gut vor jedem Sonnenstrahl, der in die Echokammern der mentalen Vereinsheime zu dringen droht. Mit Verlaub.

Das Postulat, die Wissenschaft sei auch stets mit der Wahrheitsfindung (vgl. philosophischer Erkenntnis-Begriff, Letztbegründung) beschäftigt, kann böse Folgen haben.

Wer behauptet das? Zumindest die Naturwissenschaften streben nicht nach Wahrheiten, schon gar nicht nach Letztbegründungen, gerade wegen der Fragilität und Vergänglichkeit ihrer Erkenntnisse. Der Wahrheitsbegriff hat Bedeutung vor allem innerhalb der Religionen und der Mathematik, denn "Wahrheit" bezeichnet etwas Endgültiges, nicht weiter Hinterfragbares.

Bei Kunst und Kultur versagt ihr Urteil kläglich, ja macht kaputt. Es war auch einmal "wissenschaftlich bewiesen", daß Juden allein genetisch bedingt minderwertige Menschen sind...

Das war es niemals. Es war eine ideologisch geprägte Auffassung, die sich nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützte, sondern auf deren Fehlinterpretationen (Stichwort Sozialdarwinismus). Eine bedauerliche Fehlentwicklung (nicht aber der Wissenschaften)!, ebenso wie zu Zeiten der Sowjetunion der Fall Lyssenko.

Der Glaube (!) an so einen Schwachsinn, der im Namen der Wissenschaft einfach behauptet wurde, steht fortschrittlichen Menschen nicht gut, die gesellschaftliche Entwicklungsphasen der Säkularisierung und Aufklärung durchschritten zu haben für sich beanspruchen.

Endlich hast Du es mal auf den Punkt gebracht: "im Namen der Wissenschaft".

Darin besteht eine Haltung des Geistes, die nicht zuletzt den Grund gab, Europa die Weitsichtige zu nennen. Das kritische Denken muss vorgestanzte Denkschablonen und Vorurteile der Presse ablehnen, die sich so oft auf die "fröhliche Wissenschaft" (Nietzsche) beruft. Gesund mit Kant in 14 Tagen. Etwas länger könnte die Kur natürlich schon dauern, denn auch die Redekuren des Doktor Freud sollten in ihrer Heilsamkeit nicht unterschätzt bleiben, wie auch die richtige Wahl eines vertrauensvollen Redepartners.

Sapere aude. Und wer den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes entgegen aller "Wissenschaft" zu bedienen, liest auch Freud im Kontext seiner Zeit und versteht, was Herz und Kopf verbindet, was dem Kopf unverständlich bleiben muss, wenn er jeglichem Gefühl, Sentiment, Spontanität, aber auch Schmerz, Trauer, Wut und damit letztlich auch der Freude von vorneherein so große Schranken setzt, weil es "unwissenschaftlich", unberechenbar, nutzlos, ineffizient oder vermeintlich unproduktiv ist. Der Disput ist uralt. Er findet sich, sicherlich in seltener Präzision (einer könnte von Wissenschaftlichkeit sprechen..), Größe und Erhabenheit formuliert, in Schillers Reflektion über den "alten Weisen" Kant, dessen "unerbittliche" Moralphilosophie über die Strenge geschlagen sein mag (*scnr). Zur Exegese..

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_die_%C3%A4sthetische_Erziehung_des_Menschen#Bewusstseinsphilosophie

"Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen."
Goethe

Es gibt Philosophen, die ihr Fachgebiet als der Geisteswissenschaft zugehörig sehen. Ich will mich da nicht einmischen, denn ich bin kein Philosoph, aber wenn sie recht haben, bedeutet es, nicht an den den Wissenschaften vorbei zu agieren, wenn man sich seines eigenen Verstandes bedienen will. Und so recht verstehe ich auch Deine Argumentation nicht, denn gleich hinterm Plädoyer für den Verstand folgt das Plädoyer fürs Irrationale, für Emotionen... Ich hab nicht zum ersten Mal bei Deiner Argumentation das Gefühl, daß alles recht ist, wenn es sich bloß gegen die Wissenschaften wendet.

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