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  • derJ

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Re: Haltung des Geistes

the observer schrieb am 10.08.2016 18:26 u.a.:

Es gibt Philosophen, die ihr Fachgebiet als der Geisteswissenschaft zugehörig sehen. Ich will mich da nicht einmischen, denn ich bin kein Philosoph, aber wenn sie recht haben, bedeutet es, nicht an den den Wissenschaften vorbei zu agieren, wenn man sich seines eigenen Verstandes bedienen will. Und so recht verstehe ich auch Deine Argumentation nicht, denn gleich hinterm Plädoyer für den Verstand folgt das Plädoyer fürs Irrationale, für Emotionen... Ich hab nicht zum ersten Mal bei Deiner Argumentation das Gefühl, daß alles recht ist, wenn es sich bloß gegen die Wissenschaften wendet.

Mir geht's um die Kritk der Wissenschaftsgläubigkeit, den Szientismus. Im Grunde sehr nah an Poppers kritischem Rationalismus. Das Paradoxon der menschlichen Existenz wird durch die Erforschung mit der wissenschaftlichen Methode nicht klarer, sie verhindert (!) sogar innere Einsicht, Weisheit statt rationale Erkenntnisse aus Messdaten und Experimenten. Daher der Verweis auf Schiller. Auch Goethe stand einer reinen "Vernunftsreligion" kritisch gegenüber, weil sie als "ganzheitliche Theorie" eben nicht genügt, aber durchaus als "ideologischer Überbau" (Marx) der westlichen Welt instrumentalisiert wird, um vor allem ökonomische Modelle zu legitimieren. Und ja, der "West-östliche Diwan" beinhaltet bereits die aktuelle (?) Auseinandersetzung mit dem Islam, die "veloziferischen Fazilitäten der Kommunikation" waren auch schon problematisch. Die Beschleunigung durch Wissenschaft und Technik wurde schon vor über 200 Jahren antizipiert und kritisiert, vgl.

http://www.gah.vs.bw.schule.de/leb1800/farbenlh.htm

Hölderlin fasste seine "Erkenntnisse" in Deutschland so zusammen:

"Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster."

Unsere Existenz ist paradox. Siehe Höhlengleichnis, Unterbewusstes, Quantentheorie (und -praxis..), Anti- bzw. dunkle Materie, Zeitdilatation... Jedesmal ist eine unmessbare, unbekannte Kraft im Spiel. Was zum Geier? "Unmermesslichkeit" war kein schlechter Begriff, aber das war der andere Verein, der im Namen des Christentums noch mehr Mist baute.. Klar, ich höhne und spotte, aber was sind nicht alles für "Erkenntnisse der Wissenschaft" einfach in die Luft geflogen, mit unfassbaren Schäden, die bei vernünftiger Technikfolgenabschätzung vermeidbar gewesen wären?

Die Wissenschaft als Instrument der Technokratie (!) ist das Problem, nicht der Wunsch, Wissen zu erlangen.

"So wird ein Mann, zu den sogenannten exakten Wissenschaften geboren und gebildet, auf der Höhe seiner Verstandesvernunft nicht leicht begreifen, daß es auch eine exakte sinnliche Phantasie geben könne, ohne welche doch eigentlich keine Kunst denkbar ist. Auch um denselben Punkt streiten sich die Schüler einer Gefühls- und Vernunftsreligion; wenn die letzteren nicht eingestehen wollen, daß die Religion vom Gefühl anfange, so wollen die ersten nicht zugeben, daß sie sich zur Vernünftigkeit ausbilden müsse."
Goethe nochmal, sorry, aber präziser formuliert hab' ich's nicht finden können.

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