Noch wichtiger ist es festzuhalten, dass es auch keine militärische Fähigkeit Russlands gibt, eine solche Absicht mit Aussicht auf Erfolg umzusetzen. Die russische Armee war innerhalb von fast drei Jahren nicht in der Lage, die Ukraine tatsächlich unter Kontrolle zu bringen, selbst wenn sie jetzt allmählich eine gewisse militärische Überlegenheit in die Waagschale legen kann.
Sorry, solche Erklärungen kann ich nach drei Jahren Krieg in der Ukraine, an der Russland ja auch angeblich "kein Interesse" hat, nicht mehr hören. Das Problem mit den "Russlandverstehern" ist, dass sie Russland nicht verstehen und in schöner Regelmäßigkeit mit ihren Beschwichtigungen auf die Nase fallen. Die ganze Denkweise bezieht sich auf ein vor-Putin Russland der 90er, das nicht mehr existiert. Wenn man mag, kann man dem Westen dafür die Schuld geben - an den Fakten ändert es nichts. Spekulationen darüber, wie schön doch alles hätte sein können, hätte man die russische Aggression mit einem noch "besseren" Minsk-III belohnt, sind sinnlos. Alle historischen Erfahrungen sprechen dagegen, dass ein Nachgeben gegenüber Aggressoren zum Frieden führt. Es führt zu weiterer Aggression.
Die Aggression gegen die Ukraine ist mitnichten eine Verfolgung "legitimer Sicherheitsinteressen". Es ist die gewaltsame Durchsetzung eines angeblich historisch begründeten Herrschaftsanspruches. Anders kann man Putins Rede an die Nation am Vorabend der Invasion gar nicht verstehen und ihr sind noch viele weitere mit der gleichen Stoßrichtung gefolgt.
Russland verschafft sich gerade die Fähigkeiten für weitere Angriffe. Der ganze Staat militarisiert sich, bündelt alle seine Kräfte in Richtung Krieg, dem wird alles andere untergeordnet. Die Armee wird z.B dauerhaft um 300.000 Mann auf 1,5 Millionen aufgestockt, sie ist (nach der chinesischen) dann die zweitgrößte der Welt. Alleine diese Aufstockung ist größer als die gesamten polnischen Streitkräfte, vom Baltikum gar nicht zu reden. Russland braucht diese Riesenarmee sicherlich nicht, um sich zu verteidigen - gegen wen denn? Das ist der Aufbau eines Angriffspotenzials und nichts anderes.
Damit ist klar, dass Polen und das Baltikum nur noch durch ihre NATO-Mitgliedschaft vor einem Angriff oder der Drohung damit geschützt werden. Aber wie viel ist die noch wert, falls die USA aussteigen, was durchaus nicht unrealistisch ist? Das Beistandsversprechen der NATO ist eben das, was es ist: ein Versprechen - das bisher noch nie getestet wurde. Russland könnte z.B. jedem Land, das den Polen oder Balten militärisch zu Hilfe kommt, mit einem Atomschlag drohen. Auch für die USA gilt: sie werden nicht die Zerstörung von Washington riskieren, um Warschau oder Riga zu retten, von denen wahrscheinlich kaum ein Amerikaner weiß, wo sie überhaupt liegen. Russland kann in Zukunft wirkungsvoll mit dem abschreckenden Beispiel der Ukraine drohen: wenn ihr euch nicht wehrt, dann werdet ihr besetzt. Wenn ihr euch wehrt, dann werden eure Streitkräfte vernichte, euer Land zerstört und ihr werdet dann trotzdem besetzt. Russland wird niemals nachgeben, bis es alle seine Ziele erreicht hat, egal wie hoch die Verluste sind. Wie diese Ziele morgen aussehen werden, das wissen wir, inklusive aller Russlandversteher, nicht. Und das "morgen" fängt in dem Moment an, wo Russland mit der Ukraine fertig ist. Die Ukraine zahlt den Preis für die Langsamkeit und Zögerlichkeit des Westens.