-= DISCLAIMER =-
Da ich den Ausführungen des Autors nicht in Gänze zustimme, im Folgenden eine weitere, bemüht detaillierte Sicht auf die Dinge. Es handelt sich logischerweise um eine rein persönliche Sicht in Form einer Äußerung der freien Meinung, die allerdings auf Beobachtungen und das Verfolgen der Thematik von Anfang an beruht und als eine weitere Diskussiongrundlage dienen soll.
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Welchen Sinn hätte es, aus lauter Furcht vor einem Angriff Putins auf die Nato den Ukrainekrieg bis zum Inferno voranzutreiben?
Diese Frage ist schon mal unlogisch, denn Putin treibt den Ukrainekrieg schließlich voran.
Ich gebe dem Autor insofern Recht, daß wir eine realistische Russlandpolitik brauchen. Und um das halbwegs zu beurteilen sind die Szenarien des Autors viel zu kurz gegriffen.
Zitat Albert EInstein:
"Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind."
Um halbwegs eine Lösung zu finden, sollte man sich zunächst noch einmal über die (offensichtlichen) Ziele Russlands für diesen Krieg im Klaren sein. Aus dem bunten Strauß an Zielen, picke ich 2 wesentliche Ziele Putins heraus:
I. Ziele
a) Einflußnahme auf die Ukraine:
Russland bzw. Putin hätte bei einer Öffnung der Ukraine hin zur EU wesentlich an Einflußnahme in der Ukraine verloren. Die ersten Weichen waren ja bekanntlich gestellt und es gab bereits konkrete Abkommen zwischen der EU und der Ukraine (1). Unter anderem auch Abkommen hinsichtlich der Nutzung der gigantischen Vorkommen ukrainischer Rohstoffe des Donbass Beckens. Für Russland bzw. Putin wäre der Verlust von Russlands Einfluß auf die Geschicke der Ukraine wohl von existenzieller Bedeutung, denn:
b) Machterhalt in Russland
Wenn in der Ukraine demokratische Strukturen installiert würden, die Korruption erfolgreich bekämpft würde, die Ukraine auch noch einen wirtschaftlichen Auschwung erfahren würde, der nicht nur Einher geht mit Freiheit und Menschenrechten, sondern zusätzlich mit einem gesteigerten Wohlstand im gesamten Volk, dann wäre das für Russland bzw. Putin hinsichtlich Machterhalt katastrophal. Wenn das eigene Volk nämlich über den Zaun zum Nachbarn schaut und dort das vermeintlich "bessere Russland" existiert, würde es innenpolitisch schwerer werden im gewohnten Stile zu regieren. Bis hin zu der dann durchaus realistischen Gefahr, das System so nicht mehr halten zu können.
Um diese Ziele zu erreichen müsste Russland folgendes zwingend erreichen:
- weitestgehende Kontrolle über die Rohstoffe der Ukraine
- Einnahme von Kiew zwecks Implementierung einer Regierung auf Linie zu Moskau.
Keine Anstrengung, realistisch zu sein, keine nüchterne Abwägung zwischen zwei Übeln, kein Versuch, jenen Weg zu wählen, der die Sicherheit der Bevölkerung am meisten garantiert.
Realistischerweise muss man sogar mehr als 2 Risiken bzw. Szenarien betrachten.
II. Realistisches Ende des Krieges / Verhandlungs"frieden"
Würden sich die Ukraine und Russland heute dazu entschließen an den Verhandlungstisch zu treten, was wären die jeweiligen Forderungen und wie realistisch wären erfolgreiche Verhandlungen?
a) Ukraine, klar kommuniziert:
Rückzug Russlands inkl. der Wiederherstellung der Gebietsgrenzen von vor 2014. Zahlung von Reparationen. Anerkennung der Kriegsschuld.
--> unrealistisch
b) Russland, nicht wirklich klar kommuniziert:
Nehmen wir an Russland würde sich mit dem derzeitigen Status Quo begnügen und die Ostgrenze Russlands würde sich dadurch verschieben.
Dies würde jedoch nur dann eine wirkliche Option darstellen, wenn die Ukraine kurz vor einer Kapitulation stünde und es wäre zudem von den gelieferten Unterstützungsleistungen abhängig.
--> derzeit eher unrealistisch
c) Verhandlungen bleiben ohne Ergebnis, der Krieg wird fortgesetzt
--> realistisch
zu a):
Meines Erachtens ist diese Option derzeit nicht darstellbar und somit aktuell auch nicht realistisch.
a1) Was wäre daher erforderlich bzw. was müsste passieren, damit a) eintreten würde?
- Russland müsste von außen, d.h. militärisch besiegt werden und somit gezwungen sein, den Rückzug anzutreten.
--> ohne einen etwaigen Einsatz von z.B. Truppen der NATO unrealistisch
- Russland müsste von innen, d.h. wirtschaftlich nicht mehr in der Lage sein, sich diesen Krieg zu leisten oder innenpolitisch durch einen Putsch / Aufstand / Attentat eine Änderung herbeiführen.
--> wirtschaftlich theoretisch darstellbar, ein Fahren auf Kriegswirtschaft plus fortdauernde Sanktionen führt auf Dauer in eine Staatspleite.
--> innenpolitisch theoretisch darstellbar, allerdings völlig unkalkulierbar. Eine Verschlechterung der Privatwirtschaft (durch die Umschaltung auf Kriegswirtschaft) führt irgendwann auch beim Volk zu einer Unzufriedenheit.
zu b)
Meines Erachtens ist diese Option derzeit nicht darstellbar und somit aktuell auch nicht realistisch.
b1) Was wäre erforderlich bzw. was müsste passieren, damit b) eintreten würde?
- Russland müsste der Ukraine vernichtende Schläge zufügen, unter hohen ukrainischen Verlusten schnelle Gewinne erzielen und so die Ukraine militärisch in die Knie zwingen und zur Aufgabe zu zwingen (Kapitulation).
--> auch wenn sich die Schlagzahl der Angriffe Russlands zu erhöhen scheint, lässt sich dieses Szenario derzeit nicht realistisch darstellen.
- Die militärische, humanitäre und monetäre Hilfe durch die Unterstützerländer müsste gestoppt sein.
--> auch wenn die Unterstützung seitens USA aktuell mit einem Fragezeichen versehen ist, lässt sich ein Ausbleiben der Hilfen insgesamt derzeit nicht realistisch darstellen.
- Das ukrainische Volk müsste von innen auf ein Ende des Krieges drängen und durch die eigene zivile Aufgabe dann letzten Endes den kämpfenden Streitkräften den Sinn für ein Weiterkämpfen nehmen.
--> auch wenn mit Sicherheit eine gewisse Kriegsmüdigkeit existiert, ist zum Einen der Winter bald geschafft und zum Anderen gibt es noch keine ernstzunehmenden Anzeichen dafür. Deshalb ist das derzeit nicht realistisch darstellbar.
zu c)
a1) und b1) machen c) aktuell zum realistischsten Szenario.
--> Verhandlungen würden ergebnislos verlaufen, der Krieg würde weitergehen.
III. Verhandlungs"frieden" durch das Festsetzen des derzeitigen Status Quo
a) Was würde überhaupt ein Einfrieren des derzeitigen Frontverlaufes bedeuten? Insbesondere im Hinblick auf die Zeit nach dem Krieg?
Würde der Krieg am Verhandlungstisch insofern beendet werden, daß Russland die besetzten Gebiete behält und sich die Ostgrenze Russlands dadurch verschiebt, dann hätten wir de facto eine zweigeteilte Ukraine: Ostukraine und Westukraine. Ein komplettes Einverleiben der Ostukraine, d.h. ein vollständiges Integrieren der Ostukraine zu Russland, würde wohl am Verhandlungstisch scheitern. Etwas muss Putin in dem Fall schließlich auch anbieten.
Das würde bedeuten, daß nach dem Krieg die Westukraine mit Hilfe der EU und anderen Unterstützern wieder aufgebaut werden würde und die Ostukraine noch lange Zeit unter der wirtschaftlichen Situation Russlands aufgrund der Folgen von Kriegswirtschaft und Sanktionen leiden müsste.
Die Gesamtsituation wäre nach wie vor angespannt und von Frieden im eigentlichen Sinne könnte realistischerweise bei Weitem auch keine Rede sein.
Außerdem hätte Russland bzw. Putin seine Ziele (s.o. I) nicht gänzlich erreicht. Jegliche, aus diesem Verhandlungsfrieden resultierenden Abkommen wären im Grunde wertlos. Echte Sicherheitsgarantien gäbe es keine.
b) Liegt es überhaupt im Interesse Putins, ein derartiges Szenario (langfristig) zu erreichen? Hat Putin also überhaupt ein Interesse an Verhandlungen, die nur einen Teil der Ukraine beträfen?
Daran kann man m.E. durchaus berechtigte Zweifel haben.
Vergleichen wir einmal die zwei Risiken, die mit dem weiteren Verlauf des Ukrainekriegs verbunden sein könnten. Zum einen könnte Putin auf den Gedanken verfallen, auch noch die Nato anzugreifen.
(...)
Vom zweiten Risiko neben einem Angriff Putins auf die Nato ist fast niemals die Rede. Jedenfalls nicht bei den führenden Politikern und Leitmedien. Es handelt sich um das Risiko eines Atomkriegs.
IV. Kriegsverlauf, wenn Russland die eigenen Ziele ("Muss-Ziele") nicht erreichen kann
Was wäre, wenn auf dem Schlachtfeld für Russland kein Weiterkommen Richtung Kiew mehr möglich wäre und durch die sich stetig leerenden Kassen durch die eingeführte Kriegswirtschaft ein Weiterführen des Krieges als solches in Gefahr wäre?
a) "Alles oder Nichts" - Angriff auf ein NATO Land
Sollte Putin in der Ukraine sozusagen kein Weiterkommen mehr sehen, könnte er zu einer "Alles oder Nichts"-Strategie übergehen, um zumindest innenpolitisch überleben zu können. Also entweder Weltmacht oder gar keine. Gab es in der Geschichte bekanntlich schon.
Dazu könnte er den Krieg auf dem Schlachtfeld der Ukraine sozusagen unterbrechen / den Status Quo einfrieren und auf ein NATO-Land ausweiten, am ehesten auf das Baltikum.
--> Schwierig einzuschätzen. Einerseits ist die NATO militärisch viel zu stark für Russland weswegen auf den ersten Blick eine direkte Konfrontation unrealistisch erscheint. Andererseits ist es m.E. schwer einzuschätzen wie die NATO reagieren würde, wenn Russland peu a peau ihren Nuklearen Schirm über das Baltikum legen würde.
Wäre das für Russland evtl. dann sogar ein geeignetes Druckmittel, die EInnahme der Ukraine zu erpressen?
b) "Alles oder Nichts" - der Einsatz von Atomwaffen durch Russland
--> sehr schwierig einzuschätzen, ob Russland einen Erstschlag wagen würde. Ich persönlich denke eher nicht. Und zwar aus folgenden Gründen:
- Atomwaffen in unmittelbarer Nachbarschaft einzusetzen, bedeutet auch in gewisser Weise ein Eigentor (Atombombe auf die Ukraine würde die "Beute" zerstören, der Fallout könnte Russland selbst treffen).
- Ein Angriff mit Atomwaffen auf europäischen Boden hätte einen sofortigen, "blitzkrieg"artigen Gegenschlag zur Folge. Russland würde wohl zerstört werden.
- Es ist nicht sicher, ob und wie die russischen Atomwaffen überhaupt einsatzfähig sind.
- Es ist nicht sicher, ob und wie die angrenzenden NATO Staaten bereits Vorkehrungen getroffen haben. Es ist anzunehmen, daß Russland 24/7 aufgeklärt wird und jede dahingehende Bewegung auf russischem Boden verzeichnet wird. Möglicherweise könnten Flugzeuge respektive Raketen noch über russischem Boden abgefangen werden.
- Es ist nicht sicher, ob der diensthabende Offizier überhaupt mitmachen würde.
Fazit: a) wäre m.E. das realistischere Szenario im Vergleich zu b), wobei bestimmte Voraussetzungen natürlich auch erst mal erfüllt sein müssten (s.o.).
Immerhin denkbar wäre es, dass verantwortungsvolle Politik beide Risiken ins Auge fasst, sie vergleicht, abwägt und daraus Konsequenzen zieht.
In meinen Augen sollten noch mindestens 2 Risiken in die Abwägung mit einfließen:
V. Zusätzliche Risiken
a) Atomkraftwerk Saporischschja
Ein etwaiger GAU im Bezug auf das Atomkraftwerk Saporischschja sollte m.E. in die Risikobetrachtungen mit einfließen. Für mich persönlich ist ein Unfall und damit eine atomare Katastrophe durch das Atomkraftwerk realistischer, als eine nukleare Katastrophe durch Bomben / Raketen.
b) Innenpolitik
Auch die Innenpolitik, vor allem die von Russland, bleibt in den Betrachtungen stets außen vor. Man darf nicht vergessen, daß das nicht nur Auswirkungen auf den Verlauf des Krieges haben kann, sondern diesen auch beeinflussen kann.
- In Russland kommen begnadigte Straftäter von der Front zurück ins Land
- In den Gefängnissen sind Menschen eingesperrt die sich gegen diesen Krieg ausgesprochen haben.
- Die Wirtschaft ist auf Kriegswirtschaft ausgerichtet. Die dort Beschäftigten profitieren davon, der wirtschaftliche Aufschwung ist jedoch teuer erkauft.
- Die Privatwirtschaft wird völlig ausgezehrt. Geld für Investitionen und Entwicklung geht in die Kriegswirtschaft. Das Drucken von Rubeln erhöht die Inflation, die durch die Erhöhung des Leitzins versucht wird nicht explodieren zu lassen.
- Junge Männer bzw. Fachkräfte, die das Land dringend braucht sind entweder an der Front oder geflohen oder tot.
- Die Stimmung im Volk scheint zu kippen, besonders die Frauen begehren auf und fordern ihre Männer von der Front zurück.
--> Die Innenpolitik Russlands ist eine hochexplosive Mischung. Im Grunde nur eine Frage der Zeit, wann ein Funke diese auch entzünden wird.
Risikovergleiche setzen voraus, dass man die Perspektive der anderen Seite kennt.
VI. Lösung (rein persönliche Meinung)
a) Verhandlungs"frieden"
Im Grunde hat Russland bzw. Putin den exit point bereits verpasst. Das dürfte der unerwarteten Gegenwehr der Ukraine und der anhaltenden Hilfe der Unterstützerländer geschuldet sein.
Ich hatte die Krim aus den Betrachtungen ganz bewusst herausgehalten, denn für mich könnte sie der Schlüssel sein, sollte Putin seine Ziele nicht mehr erreichen können und trotzdem (innenpolitisch gesichtswahrend) aus der Nummer herauszukommen. Ein derartiger Verhandlungsfrieden sähe dann in etwa so aus:
- Russland zieht alle Truppen aus den Gebieten der Ostukraine zurück, die Oblasten werden zurück in die Unkraine eingegliedert.
- Die Ukraine verzichtet dafür auf die Krim, die an Russland übergeht.
- Die Ukraine verzichtet auf Reparationen, dafür verzichtet Russland auf Mitsprache hinsichtlich Orientierung der Ukraine (EU, NATO).
- Die NATO verpflichtet sich auf das Stationieren von Waffen in der Ukraine zu verzichten.
- weitere Sicherheitsgarantien sind wechselseitig im Einzelnen zu verhandeln.
b) Intensivierung der Hilfen für die Ukraine um Russland zum Rückzug zu zwingen.
Wäre theoretisch denkbar, allerdings birgt das die oben aufgeführten Risiken. Hierbei würde zudem die Frage, was sich die Ukraine und was sich die Unterstützer der Ukraine für die Zukunft der Ukraine vorstellen, eine wesentliche Rolle spielen.
Fazit: Eine Lösung am Verhandlungstisch ist nur MIT der Ukraine und MIT Russland zu erreichen. Auf keinen Fall wäre derzeit eine einseitig vorgestellte Lösung realistisch darstellbar.
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(1) z.B.:
https://trade.ec.europa.eu/access-to-markets/de/content/vertiefte-und-umfassende-freihandelszone-eu-ukraine
https://germany.representation.ec.europa.eu/news/eu-und-ukraine-bringen-strategische-partnerschaft-fur-rohstoffe-und-batterien-auf-den-weg-2021-07-13_de
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