Wie kann man den ersten Satz falsch verstehen?
Der postende Forenbesucher bewegt sich beim Drunterkommentieren mehr und öfter im virtuellen Irrenhaus, als ihm bewusst zu sein scheint.
Hier ist von einem postenden Forenbesucher die Rede, und nicht etwa von einem Kommentierer!
Dann folgt eine Aufzählung von zynischen Sprüchen, pointiert-überzogene Charakterschablonen, Aphorismen und wie man das nennt. Dass es eine Aufzählung ist wird dadurch klar, weil der eigentliche Text durch eine Art Stabreim durchsetzt ist. Wenn man die Sätze isoliert betrachtet, wird das deutlich.
Social Media ist ihm seine Heimstätte, sein wohliges Häuschen mit Garten, in dem er es sich gemütlich einrichtet und auf jeden einredet, der gerade am Gartenzaun entlang flaniert.
Der Drunterkommentierer hält sich für den Häppchenbringer auf dem Bankett, dabei buhlt er um die Aufmerksamkeit von Social-Media-Accounts, also Schimären.
Der Drunterkommentierer ist der Hampelmann seiner eigenen Langeweile. Er denkt, er verbessere die Welt, indem er Sätze korrigiert und glaubt, er korrigiere Menschen, indem er ihnen Informationen zuträgt.
Der Drunterkommentierer bringt es fertig, sich in der kosmischen Kälte und existenziellen Verlassenheit der sozialen Medien zu Hause zu fühlen. Fragt ihn im wirklichen Leben niemand nach seiner Meinung, darf er im Kommentarbereich des Netzes mal so richtig die Sau herauslassen.
Dass seine Beiträge nur von seinesgleichen, also anderen Kommentarspalten-Exegeten gelesen werden und seine Meinung in der Welt keinen Belang hat, stört ihn nicht weiter, sondern treibt ihn nur noch an, mit anderen Wahnsinnigen abermals Nebenschauplätze und Meta-Diskussionen zu eröffnen: Der Drunterkommentierer verkümmert zum Drunterkommentar-Drunterkommentierer.
Und dann erst kommt wieder der eigentliche Text an den Leser.
Das Thema des Drunterkommentieren ist nicht das Thema, zu dem er drunterkommentiert. Sein Thema ist ausschließlich er selbst, genauer:Sein gestörtes Verhältnis zu Vernunft und Mitwelt. Kennen Sie diese Menschen, die Sie mitten in der Stadt ansprechen, nicht etwa um zu betteln oder Ihnen was zu verkaufen, sondern um davon zu erzählen, das mit dem Staat sei so schlimm, das ginge bis hinauf zur Regierung? So jemand ist der Drunterkommentierer.
Und dann folgt wieder eine Aufzählung - wie davor
Im eigentlichen Text geht es erst dann wieder weiter mit
Der Drunterkommentierer ist das Symptom der Verwandlung des Internets in eine Irrenanstalt, ...
Leider geht die Aufzählung in diesem Satz gleich weiter.
... in der sich jeder für Jesus hält und in Selbstgesprächen murmelnd über die Flure rennt. Nur dass diese Irrenanstalt eine offene ist und die Monologisierenden glauben, sie kommunizierten mit anderen.
Wer sich darüber bewusst ist, warum er in Artikelforen liest, muss sich an dieser Stelle doch bewusst werden, dass das keine Beschimpfung des Lesers ist, sondern dass hier der Autor den eigenen Plan wieder aufnimmt, in diesem Experiment eine These zu falsifizieren.
Besonders dieser Satz macht ganz klar, dass es nicht um uns Forenten hier geht, sondern um etwas ganz anderes:
Wird es ganz arg, muss der Drunterkommentierer bezahlt werden. Er firmiert dann unter dem Label "Kolumnist", wo er, geschickt weggesperrt an den Zeitungsseitenrand, niemanden mehr weiter stört, der nicht ohnehin qua masochistischer Neigung gewohnt ist, sich selbst regelmäßig seine Laune zu verderben.
Nun folgt die Aufdeckung, was das eigentliche Thema ist:
Der Drunterkommentierer ist universell einsetzbar, weil die momentane Verfasstheit der Welt den drunterkommentierende Charakter zwangsläufig hervorbringt.
Den Drunterkommentierer immanent und persönlich zu kritisieren, hilft nicht weiter. Sobald das nämlich geschieht, wird man selbst zu einem.
Die politischen Optionen, die gegen diese Verfasstheit der Welt aufzubringen wären, sind hier nicht Gegenstand; sicher ist allerdings, dass allein ihre Nennung 95 Prozent aller eifrigen Drunterkommentierer gegen sie aufbrächte.
"
Der vorletzte Satz kennzeichnet - m.Ea. - den Artikel als philosophisches Experiment.
Es sind nicht die Forenten gemeint, sondern die omnipräsenten Darunterkommentierer.
Diese möchte der Autor nicht mal mit den Sprüchen, Aphorismen etc. bloßstellen und kritisieren, sondern er hinterfragt auf einer philosophischen Metaebene, was dieses so charakterisierten Wesenszüge(!) - also nicht den Menschen, sondern seine Verhaltenszüge als überall regelmäßig Mitpostender - hervorbringt.
Dass es Philosophie ist, stellen die beiden Sätze klar:
Der Drunterkommentierer ist universell einsetzbar, weil die momentane Verfasstheit der Welt den drunterkommentierende Charakter zwangsläufig hervorbringt. Den Drunterkommentierer immanent und persönlich zu kritisieren, hilft nicht weiter. Sobald das nämlich geschieht, wird man selbst zu einem.
Philosophie gehört zu den abstraktesten Fächern überhaupt, es ist im Grunde genommen nur mit Mathematik vergleichbar. In beiden Fällen werden Strukturen, "Operationen" (Handlungen), deren Ergebnisse und deren Eigenschaften studiert.
Der Satz
Die Verfasstheit der Welt bringt das oben beschriebene Phänomen mit sich, das als Eigenheit abgekapselt von dem erzeugenden Ganzen existiert
ist vielleicht vergleichbar mit dem Beschreiben von vollständig reduziblen Darstellungen endlicher Gruppen und irreduzibler Darstellungen in der Mathematik (wo man nur mitdenken kann, wenn man sich täglich damit befasst). Dem Nichtmathematiker aber sei gesagt, dass beobachtbare Phänomene durch Umstände hervorgebracht werden, die nicht sofort ersichtlich sind.
Und letzteres bringt den eingangs erwähnten "
postenden Forenbesucher
" überhaupt in das Internet. Dieser will lernen, verstehen, wissen - warum die Welt heute so ist wie sie ist.
Manche Forenbesucher sind mit den Antworten überfordert und wird dadurch zum Kommentierer. Das ist wie bei Thilos Artikeln auf scienceblogs.de.
Man versteht komplizierte Dinge nur, wenn man sich Zeit nimmt, sich sehr intensiv damit auseinandersetzt, sich selbstständig Dinge erarbeitet und sich auf dem laufenden hält, um auf diese Weise in der aktiv tätigen Form die fachspezifische Eigenheit des Themas zu real-isieren. Ansonsten kann dies nicht einmal von Kauderwelsch unterschieden werden - bis man sich einen Zugang dazu erarbeitet. Wenn man dafür keine Zeit oder Kraft dafür hat, dann kann man das Kommentieren jedoch unterlassen. Das sinnlose Kommentieren dient mehr der Befreiung von einem unangenehm gewordenen Gefühl, also zur eigenen Entlastung - wie man hier auf Heise schon weiß:"Es ist FREITAG".
Der letzte Absatz "
Die politischen Optionen, die gegen diese Verfasstheit der Welt aufzubringen wären, sind hier nicht Gegenstand; sicher ist allerdings, dass allein ihre Nennung 95 Prozent aller eifrigen Drunterkommentierer gegen sie aufbrächte. Was ja nicht die schlechteste Auszeichnung wäre.
"
Welche "politischen Optionen" das wären, das wäre das eigentliche Thema gewesen, über das sich zu posten gelohnt hätte.
Gibt es - wegen den (mutmaßlich teilweise bezahlten) Spaltpilzen - wirklich keine Möglichkeit, den wegen der Komplexizität überforderten Kommentierer so viel Verständnis zu vermitteln, sie also zu integrieren, so dass ihr Verhalten wieder auf das Normalmaß (Canguilhem) zurückgeht?
Geht das ohne Zwang?
Es muss eine basisdemokratische Methode zu entwickeln sein, um eine fruchtlose Diskussion zu fördern und dabei zu verhindern, dass die Argumente nicht von, vm System hervorgebrachten Unverständigen (s.u. PS) und von Agitatoren "verwässert" wird.
Und dazu ist es eben hilfreich, zwischen dem "postenden Forenten" und dem unreflektiert handelnden "Darunterkommentierer" zu unterscheiden.
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PS
Ich selber sehe zunehmend das Kalkül, dass es besser wäre, dass die jungen Erwachsenen möglichst eine Familie gründen (und dazu schnellstmöglichst ins Arbeitsleben kommen sollen) statt, dass Kompetenzen entwickelt werden, die sie zu aufrecht denkenden und handelnden Menschen ohne Minderwertigkeitskomplexen werden lässt und diese wegen fachlichen und methodischen Kenntnissen auch zu einer überzeugenden Argumentationsfähigkeit befähigt sind - weswegen wir die Darunterkommentierer haben.
Denn vor-letzteres wird in den auf uns zukommenden Krisen notwendig sein, um überhaupt operationsfähige Einheiten inmitten eines "Feuersturms" bilden zu können.
Nicht vergessen: Wenn ein Stamm angegriffen wurde, machten die Angreifer Lärm, um die Kommunikation zwischen den Angegriffenen untereinander und die Reaktion auf den Angriff zu verhindern. Und heute bestehen die "Angreifer" in Form von unsichtbaren komplexen Zusammenhängen, die das Boot, in dem wir alle sitzen, gefährden.
Die Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, sich von falschen Gewohnheiten lösen zu können, gehört dazu.
Von daher ist der Artikel des Autos nicht wirklich schlecht.
Es gibt nur keine Antworten, wie der Darunterkommentierer sich bessern könnte. Sein gestörtes Verhältnis zu Vernunft und Mitwelt bleibt unbehandelt.
Letzteres ist die Ursache für den heftigen Widerspruch.
Die Machthaber und moralisch Überhöhten verbessern ihr Handeln nicht, sind nicht transparent und offen - warum sollen die Darunterkommentierer sie nicht auch spiegeln dürfen?
Manchmal habe ich wirklich das Empfinden, dass sie das tun - sie handeln genauso wie diejenigen, die mit ihnen umgehen - was eine Abwärtsspirale ist.
blu_frisbee's Formulierung hier im Forum ist schon richtig - die Ohrfeigen, die er verteilt, sind schon hinzunehmen. Denn er hat wirklich recht.
https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Der-User-als-Patient/Re-Flachlaendler/posting-39525288/show/
Es bringt nichts, sich mit Namen zu befassen. Namen sind Schall und Rauch. Es geht nur um Funktionen; um das, was passiert (Operatoren) und um die Eigenschaften der Konstellation. Leider gibt es immer noch Menschen, die beim Spiel "Mensch ärgere Dich nicht" am Ende enttäuscht die Figuren vom Spielfeld fegen - ein faszinierendes Phänomen, um es mal wie Spock zu sagen.
Statt den Wettbewerb der Systeme wie vor dem Fall der Mauer zu fordern, ist es klüger, die Menschen zu klaren Argumenten befähigen - mit Hilfe von Transparenz.
Ich stelle klar: Es wurde ganz zu Beginn zwischen dem postenden Forenbesucher und dem Kommentierer unterschieden.
Eine Lektion, die sich solange wiederholt, bis man es begriffen hat.
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (29.08.2021 16:01).