Dafür beobachten wir heute zahlreiche Bewegungen, die allein partikulare Interessen transportieren wie z. B. die der Schwulen und Lesben, Transgender, Tierschützer, Antirassisten, Globalisierungsgegner, Klimaschützer usw. Auch bürgerlicher Feminismus gehört in diese Kategorie.
Dies ist wohl diejenige Aussage Wengrafs, die die Leerstellen seiner Sicht am deutlichsten aufweist. Weil er, als sich als traditioneller Linker verstehender, mit Ökologie nichts am Hut hat, versammelt er darin Kraut und Rüben. Tierschützern und Klimaschützern die Verteidigung 'partikularer Interessen' vorzuhalten, ist ein grobes Foul, sachlich völlig unsinnig.
Die Probleme seiner Darstellung gehen aber noch deutlich tiefer. Die heutigen Zustände werden kurzgeschlossen mit verblasen dargestellten Positionen einiger Exponenten der ursprünglichen Frankfurter Schule. Wengraf tut so, als seien diese allein wirkmächtig gewesen und hätte nicht die Vertreter des real existierenden Kapitalismus, als Antwort auf die immer wieder gleich einer Haifinne sichtbar werdenden Aporien ihrer Ideologie, ganz massgeblich zur Desozialisierung und also Individualisierung von Opposition dagegen beigetragen. Die neoliberale Wende kam ja nicht von ungefähr. Sie ist u. a. auch als defensive Antwort auf Systemkrisen zu verstehen und erst sie hat die Voraussetzungen für heutiges wokes Bewusstsein geschaffen, jene Neoorthodoxie, die gleich den jüdischen Kaschrut-Regeln präzise vorschreibt, wie zu leben sei. Man kann es schlichter als Dogmatismus bezeichnen, der eine neue Form angemasster moralischer Überlegenheit konstituiert.
Denn wo alles Markt ist und noch die intimste menschliche Tätigkeit monetarisiert, stellt sich die Frage der Gerechtigkeit anders, eben individuell. Markt und Monetarisierung lösen Gesellschaften tendenziell auf, es bleiben Individuen.
Es ist also komplett ungerechtfertigt Marcuse, Horkheimer und Adorno die Schuld für heutige Zustände in die Schuhe zu schieben. Es übertreibt deren Einfluss masslos. Auch schon die 68-Bewegung ist nur sehr bedingt auf die Frankfurter zurückzuführen, auch schon darauf war ihr praktischer Einfluss eher marginal. Es gibt Äusserungen des Erstaunens und der Abwehr, Adorno konnte mit den 68ern sehr wenig anfangen. Der grösste Teil der Kraft, die diese Aktivisten entfalteten, speiste sich aus dem durchaus verbreiteten Widerwillen gegen die bidermeierlich-reaktionäre Erstarrung westlicher Gesellschaften, die sie mittelfristig erfolgreich durchbrachen. Dass dabei Viele einem Selbstmissverständnis erlagen und sich für weit linker hielten als sie es waren, erklärt die politischen Standpunkte, die die Überlebenden dieser Generation heute einnehmen. Auch damals war viel Dogmatismus und quasireligiöses Verhalten im Spiel.
Widersinnig ist auch Wengrafs Stellungsnahme zur chaotischen staatlichen Corona-Politik. Es müsste ihm zu denken geben, dass eben jene Linken, die ihm bei der Präferenz für die Arbeiterschaft als politisches Subjekt besonders nahe stehen, die Trotzkisten, die staatliche Coronapolitik im Westen als völlig untauglich, defizient und zynisch attakieren. Wohingegen er, ironischerweise, einem quitschbürgerlichen Freiheitsdiskurs die Stange hält, ohne auch nur einen Moment zu bedenken, was diese 'Freiheit' für die Bewohner einer Villa in Blankenese einerseits und diejenigen heruntergekommener ehemaliger Sozialwohnungen andererseits bedeutet.