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  • DJ Holzbank

mehr als 1000 Beiträge seit 03.09.2011

Zahlen zu den Auswirkungen der Währungsunion ...

... hatte der mittlerweile verstorbene ostdeutsche Ökonomieprofessor Harry Nick auf seiner Webseite veröffentlicht.
"Betrug die Industrieproduktion im Monat vor der Währungsunion (Juni 1990) noch 86,5 % derjenigen des gleichen Vorjahresmonats, so im Monat nach der Währungsunion (August 1990) nur noch 48,1 % des Vorjahresmonats. Es war ein plötzlicher Absturz, eine Halbierung der Produktion von einem Monat zum anderen.

Die Zahl der Erwerbstätigen ging in Ostdeutschland von 9,5 Millionen im 1. Quartal 1990 auf 6,1 Millionen im 2. Quartal 1993 zurück. Die Zahl der Industriebeschäftigten je 1000 Einwohner sank von 132 im Jahre 1990 auf 47 im Jahre 1993. Die Zahl der Industrieforscher verringerte sich von 86000 Ende 1989 auf 16000 Ende 1993. In der Landwirtschaft ging die Zahl der Beschäftigten gleichfalls um vier Fünftel zurück.

Auf dem Tiefpunkt der Deindustrialisierung - 1992 – war die Industrieproduktion ca. auf 31 Prozent gegenüber 1989 gesunken. Nicht nur in Friedenszeiten, nein, auch in Kriegszeiten hat es seit Beginn der Neuzeit einen solchen wirtschaftlichen Absturz nicht gegeben: Im ersten Nachkriegsjahr nach dem 1. Weltkrieg (1919) betrug die industrielle Produktion Deutschlands gegenüber dem letzten Vorkriegsjahr (1913) 57%; im ersten Nachkriegsjahr (1946) nach dem 2. Weltkrieg in Ostdeutschland 42 % gegenüber dem letzten Vorkriegsjahr (1938); die tiefste Wirtschaftskrise in Deutschland führte zu einem Rückgang der Industrieproduktion auf 59% (1932 gegenüber 1928).
1989 waren 26% der in der Industrie Beschäftigten in Betrieben mit jeweils über 5000 Beschäftigten tätig; drei Jahre später gab es Betriebe dieser Größengruppe in Ostdeutschland gar nicht mehr."
http://www.harrynick.de/index.php?page=413794532&f=1&i=413794532

(Wer für die Auswirkungen der blitzartigen Währungsunion die "marode DDR-Wirtschaft" verantwortlich machen will sollte sich fragen, warum den wettbewerbsfähigen Ökonomien Westeuropas ein Vorlauf von 8 Jahren gewährt wurde - Maastricht-Verträge 1992; Euro-Einführung 2001 - und sie ökonomische Kriterien erfüllen mussten, bevor sie in dem Euro-Raum beitreten durften. Für diese Vorsicht muss es doch wohl Gründe gegeben haben.
Man kann auch nicht sagen, dass "die DDR-Bürger" sofort die D-Mark wollten. Die dümmeren 48% wählten im März 1990 die "Allianz für Deutschland", die "D-Mark sofort" versprach. Die knappe Mehrheit aber eben nicht.)

In meiner Heimatstadt, in der Helmut Kohl im Mai 1991 von frisch gebackenen Arbeitslosen mit Eiern beworfen wurde, hat sich die Situation folgendermaßen entwickelt.

Bis 1990 gab's in der Stadt, einem großen Industriezentrum, ein großes Werk für Schienenfahrzeuge (VEB Waggonbau Ammendorf), ein Werk für Großpumpen und Verdichter (VEB Pumpenwerke Halle), die VEB Karosseriewerke Halle, die u.a. Karosserien für den PKW Wartburg herstellten, die VEB Maschinenfabrik Halle, die industrielle Kältetechnik für Kühlhäuser, Schlachthöfe etc. herstellte, die VEB Ammendorfer Plastwerke, die, wie der Name andeutet, diverse Plastikprodukte von Regenrinnen bis Fußbodenbelag herstellten, den VEB Hermes Graphischer Spezialbetrieb, ein Werk für Schreibwaren, das pro Jahr u.a. 97 Millionen Schulhefte produzierte, eine größere Möbelfabrik (WIWENA), eine Lampenfabrik, drei Betriebe der Lebensmittelindustrie (Halloren, Kathie), eine Betonfabrik.
Zig kleinere andere Betriebe findet man hier aufgelistet:
https://www.mil-airfields.de/ddr/orte/halle-saale.html

Unmittelbar südlich des Stadtrandes standen die beiden größten Chemiebetriebe der DDR, die BUNA-Werke (18.000 Beschäftigte) und die LEUNA-Werke (30.000 Beschäftigte), sowie das Mineralölwerk Lützkendorf.

Jetzt ist buchstäblich alles weg. Der größte produzierende Betrieb der Stadt, der aus DDR-Zeiten "hinübergerettet" wurde, ist die Halloren Schokoladenfabrik AG mit 156 Beschäftigten.
Aus den BUNA-Werken wurde die Dow Olefinverbund GmbH (mit 1600 Beschäftigten), die vor kurzem gepfändet wurde.

Jeder Dritte hat die Stadt seit 1990 verlassen - die Einwohnerzahl sank von 350.000 auf 230.000 Einwohnern. Und wovon diejenigen leben, die in der Stadt geblieben sind, weiß eigentlich keiner so richtig.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (03.10.2023 13:45).

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