Es geht nicht darum, über den Machthaber noch jemanden darüber zu setzen, sondern daneben. Diese unabhängige Gewalt, soll gerade darüber entscheiden, ob einerseits erlassene Gesetze und andererseits ergangene Urteile nicht gegen geltende Verfassung verstoßen. Diese Kontrollfunktion wird durch die gängigen Verfahren ausgehöhlt wenn nicht sogar "ad absurdem" geführt werden.
Sie haben natürlich Recht. Insofern ist ein Verfassungsgericht eher als etwas anzusehen wie eine weitere Kammer im Parlament mit Vetorecht gegen die Gesetze der anderen Kammer oder Kammern, aber ohne das Recht, selber Gesetze zu erlassen. Also nicht der eigentliche (Ober-)Machthaber, wie ich geschrieben habe. Aber es ändert nichts daran, daß dann halt die Besetzung des Verfassungsgerichtes Gegenstand der politischen Kämpfe ist, die nach demselben Modus ausgetragen würden wie die Wahlkämpfe um die Besetzung des Parlamentes.
Ganz deutlich wurde das Problem in dem Roman "Die Akte" von John Grisham dargestellt und in der Auswahl der Richter des obersten Bundesgerichtes der USA demonstriert. Ein amtierender Präsident wählt die Kandidaten aus und diese Kandidaten werden vom Senat bestätigt. Wählt der Präsident jemals Kandidaten aus, die seiner Rechtsauffassung widersprechen? Anstelle des Präsidenten kann man auch die Vertreter einer Partei oder eines Parlamentes sehen.
Den Roman von Grisham habe ich nicht gelesen. Was mir schon vor einiger Zeit aufgefallen ist, ist die Tatsache, daß die Richter des SCOTUS bis in die 60iger Jahre hinein meistens einfach per acclamationem ernannt wurden. Abgestimmt wurde nur selten, vielleicht weil ein Kandidat irgendwie problematisch erschien. Ab den 60iger Jahren wurde das anders, es mußte immer abgestimmt werden, und ab den 80igern ging es dabei meist nach Parteilinien. Clarance Thomas ist als erster SCOTUS-Richter bei diesen Ernennungskämpfen auf massive Weise persönlich angegriffen worden, was sich dann bei Kavanaugh wiederholt hat. Für mich ein Symptom für die seit den 1960igern schwelende Krise des politischen Systemes der USA. Daß mal wieder ein SCOTUS-Richter einstimmig oder durch Akklamation ernannt werden könnte, scheint heute unvorstellbar, abgesehen von Situationen, wo eine der politischen Richtungen in den USA vernichtend geschlagen und aus den Parlamenten ausgeschlossen wird.
Gerade das Auswahlverfahren und die sich daraus ergebenden Entscheidungen der obersten Gerichte stärken in der Bevölkerung das Gefühl, dass der Rechtsstaat nicht mehr existiert und somit eine Demokratieverdrossenheit.
Rechsstaat ist wie gesagt ein unscharfer Begriff (Sie können das einfach in dem deutschen Wikipädie-Artikel nachlesen), der außerhalb des deutschen Sprachraumes auch längst nicht die Bedeutung hat, die Sie ihm zumessen. Naiv könnte man als Definition nehmen: Die Kontrolle über die Rechtssprechung ist nicht Gegenstand der politischen Machtkämpfe. Es herrscht eine Situation, die allgemein als Gleichheit vor dem Gesetz angesehen wird.
In der Bundesrepublik kann davon schon seit Jahrzehnten nicht mehr die Rede sein. Beispiel: "Abtreibungsärzte sind Mörder" war, wenn ich mich richtig erinnere, strafbewehrt, nicht aber "Soldaten sind Mörder" (das war vor dem Umschwenken der Linken auf eine bellizistische Linie). Den einen darf man als Köterrasse beschimpfen, bei anderen führen selbst harmlosere Aussagen ins Gefängnis oder den wirtschaftlichen Ruin. Undurchsichtige Seilschaften können ihre Interessen an allen Kontrollinstanzen vorbei durchsetzen. Siehe der jüngste Streit um einige Figuren bei Karl May und in Karl May-Filmen, wo alle Betroffenen nach kurzer Zeit aufgegeben haben. Eine Klage vor Gericht gegen die Urheber der Kampagne wäre offenbar aussichtslos gewesen, obwohl die Rechtslage eine Klage gegen derartige Negativkampagnen anscheinend zuläßt (womit ich mich freilich nicht weiter auskenne) und die Betroffen finanziell in der Lage wären, durch alle Instanzen des Rechtsweges zu gehen.
Ich halte es da mit Carl Schmitt. Dieser hat politische Homogenität als Voraussetzung für Demokratie gesehen, und dasselbe könnte auch für Rechtsstaatlichkeit gelten. Politische Homogenität ist hier zu sehen im Sinne von Schmitts Begriff des Politischen, also der Freund-Feind-Unterscheidung. Es ist nicht mit rassischer, religiöser, sprachlicher Homogenität identisch, weil man gar nicht vorhersehen kann, welche Unterschiede die Menschen einmal als Grundlage einer Freund-Feind-Unterscheidung nehmen würden. Beispiel: Die Ukraine, wo es in den 1990iger Jahren noch gar nicht absehbar war, daß die Sprachfrage einmal (nach Einmischung ausländischer Interessenten) einen Bürgerkrieg auslösen könnte.
In den USA und den westeuropäischen Staaten fehlt auf absehbare Zeit diese politische Homogenität als Voraussetzung für Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit. Darum können diese Staaten auch nicht ernsthaft als Demokratien oder Rechtsstaaten angesehen werden, auf wenn sie sich um die Aufrechterhaltung einer entsprechenden Fassade bemühen. Irgendwelche raffinierte Auswahlverfahren für den jeweils höchsten Gerichtshof würden meiner Meinung nichts am Fehlen der grundlegenden Voraussetzungen für Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit ändern.