Zu dem Thema greif ich mal in die Anekdoten-Kiste. Ich bin "rübergemacht" 2009. Meine Eltern leben in Sachsen, so auch die mir noch verbliebenen Großeltern väterlicherseits. Auch andere Teile der Verwandtschaft lebt noch da. Die allermeisten würde ich mal vorsichtig als "Wendegewinner" bezeichnen. WARUM?
1. Meine Eltern waren relativ jung, anfang 30, als die Mauer fiel. Die sind beide wieder rasch auf die Beine gekommen. 1999 dann reichte es, um in der Landeshauptstadt ein Haus zu kaufen. Das Haus ist zwar nix besonderes, sondern das Eckstück einer Reihenhaus-Siedlung, aber es ist eben Eigentum. 17 Jahre später war's abfinanziert, also ich meine, 2017 ging die letzte Rate ab.
Mein Vater ist Rentner, ging "abzugsfrei" mit 64 in den Ruhestand. Meine Mutter muss noch ein paar Jahre, wird aber auch nicht bis 67 arbeiten, sondern früher aufhören. Ist ja alles geschwätzt.
2. Mein Großvater väterlicherseits hat's geschafft gehabt. Ursprünglich Ingenieur bei einem DDR-Kamerahersteller, wurde er früh verrentet. Ich meine, er ist mit 57 in Rente gegangen. Der Mann ist heute 91 Jahre alt und erfreut sich guter Gesundheit zusammen mit seiner Frau. Beide wohnen sie in der gleichen, in den 1950ern erbauten Genossenschaftswohnung mit entsprechendem Alt-Mietvertrag (Neuauflage nach der Wende). Entsprechend günstig also ist das Leben.
3. Auch die Schwester väterlicherseits (also meine Tante) fiel weich, als auch ihr Mann. Letzterer hatte sich das System ein Stück weit zum Feind gemacht, da er den Dienst an der Waffe verweigert hatte. Zum Glück für ihn ging die DDR unter, er konnte als hauptberuflicher, d.h. verbeamteter Feuerwehrmann seinen Lebensunterhalt verdienen. Inzwischen pensioniert und immernoch ein demokratischer, kritischer Geist, ebenfalls mit eigenem Dach überm Kopf. Also auch hier kann ich keinen "Wendeverlierer" erkennen.
Täte ich nun heute mit meinen Ü40 im eigenen Haus sitzen und monatlich ein Salär nach IG-Metall (E-Techniker, mind Gruppierung 9) verdienen, ich würde mich sicherlich auch als Wendegewinner bezeichnen. Allerdings ist die Wende ja eine Weile her und alle anderen Wenden (Verkehrswende, Energiewende, ...) machen immer mehr Menschen zu Verlierern. Ich sitz hier immernoch in einer Mietwohnung mit Frau und Kindern. Das Geld reicht zum Leben, aber für Investitionen ist nix über. Und leider reicht mein Einkommen halt nicht, damit meine Frau Hausfrau spielen kann, sie MUSS ran. Trotzdem wird es nie mehr für eine Immobilie reichen, so nicht irgendwo ein reicher Erbonkel mir einen satten sechstelligen Betrag hinterlässt.
Also GANZ pauschal "Wendeverlierer" ist nicht.
Aber ja, ich kenne auch eine ganze Reihe gescheiterte Existenzen, die nach der Wende nie wieder auf die Beine gekommen sind, allerdings kaum welche aus meiner Familie. Warum, weiß ich nicht.
Übrigens: der Grund, warum gerade in Ostdeutschland die AfD als Protestpartei so stark wird, ist u.a. in der Regierungspolitik zu suchen. Der mühsam aufgebaute Wohlstand (siehe Beispiele meiner Familie) droht verspielt zu werden. Die Menschen möchten das, was sie sich erarbeitet haben, gern behalten und im Frieden alt werden dürfen - nicht mehr, nicht weniger. Auf die Idee, dass niemand Lust hat gegen seinen Willen um seine eigene Hände Arbeit gebracht zu werden, kommt halt nie jemand in der Politik,
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (02.05.2024 17:03).