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  • crumar

mehr als 1000 Beiträge seit 08.03.2007

Pseudokritik ist, wenn man statt den Verhältnissen das Personal kritisiert

Das Forum, mit Gespür für aktuelle Entwicklungen in Hollywood ausgestattet (Stichwort: woke!), hat erwartbar auf diesen Absatz reagiert, wonach Filme (meine Strukturierung): "aufgrund ihrer imaginativen Kraft, ihres Involvements und affektiven Potenzials beim Publikum

- für Orientierung sorgen (können),
- die Integration fördern,
- der Herausbildung einer kollektiven Identität dienen und
- zur Erinnerungskultur beitragen
- sowie Antworten auf die drängendsten Fragen der Zeit geben.

Doch ist der deutsche Film alles andere als
- ein Motor von Emanzipation oder grundlegender
- gesellschaftlicher Transformation."

Er hat noch die B-Note vergessen, nämlich "Haltung" zu vermitteln. ;-)

Im Gegensatz zum Autoren des Artikels halte ich den Autoren nicht für "progressiv", kritisch oder "emanzipativ", sondern für einen staatstragenden Oberlehrer, der mit diesen "checkboxen" für eine Pseudo-progressive Attitüde durch offene Türen läuft.
Wer alle diese "checkboxen" angeklickt hat, wird mit großer Wahrscheinlichkeit einen schlechten Film hergestellt haben, aber das ist ein anderes Thema.

Über die derzeitige ökonomische Situation des deutschen Films Prof. Martin Hagemann: Der deutsche Film ist zu fast 50 Prozent öffentlich gefördert. Die Fernsehanstalten sind im Durchschnitt mit circa 15 Prozent am deutschen Kinofilm beteiligt. Man kann also mit Fug und Recht sagen: 60 bis 65 Prozent der Finanzierung der deutschen Filme kommen von der öffentlichen Hand. In dem Sinne handelt es sich auch nicht um einen reinen
Markt. Da ist keine Struktur, in der Angebot und Nachfrage wie auf dem freien Markt geregelt wird."

Und Harald Petzold, Medienpolitischer Sprecher der Linken (kursiv von mir): "Immer mehr Filmförderer – wie auch öffentlich-rechtliche Sender – teilen sich die Finanzierung eines Films. Damit reden und entscheiden auch immer mehr Leute mit. So gibt es in allen Fördereinrichtungen zusammen über 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zusammen über 200 Filme fördern. So ist es kein Einzelfall, dass nicht unter 20 bis 25 Entscheider ihr Votum für oder gegen einen Film abgeben – also bei der Antragsstellung berücksichtigt werden müssen. Sie sprechen mit, sie nehmen Einfluss auf den Film, tragen aber kein Risiko."

Jetzt stellt euch vor, die Filmförderung eures Films mit bis zu 25 Thomas Wiede*manns (auch *frau) diskutieren zu müssen, der/die eine genaue Vorstellung davon besitzt, was der Film für eine Aufgabe zu haben hat und welche "progressiven" Botschaften transportiert werden müssen (und auch klare Vorstellungen vom Personal hat).
Ach so, besser ihr habt außerdem noch das "richtige" Geschlecht, die "richtige" soziale Herkunft und die "richtige" Hautfarbe.
Wenn der Film floppt, ist das natürlich nicht das Problem von Thomas Wiede*mann.

Aus der gleichen Schrift der Linken (Innovation statt Kommerz - Für eine Neuausrichtung des Filmförderungsgesetzes) über die Situation im Film: "Prekäre Arbeits- und Sozialversicherungsverhältnisse sind für viele von ihnen der Alltag, Selbstausbeutung und ›Draufzahlen‹ für die meisten die Norm. Und Filmförderung achtet nicht einmal mehr ansatzweise darauf, dies zu ändern. Ihre verschiedenen Auflagen führen im Gegenteil sogar dazu, dass ein Filmprojekt zumeist nur zu Lasten der sozial angemessenen Bezahlung eines Teils der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umgesetzt werden kann. Mindestlohn oder -honorar? Fehlanzeige. Tarifvergütung? Welch ein Luxus!"

Daraus macht Thoma Wiedemann: "Meine Eltern haben mich nicht unter Druck gesetzt, etwas Handfestes zu lernen", resümierte stellvertretend ein Regisseur und berichtete von den "Finanzspritzen", die er bis zu seinem 30. Lebensjahr von zu Hause bekam." - weil es anscheinend Spaß macht, bis zum 30. Lebensjahr von seinen Eltern zu leben.
Die prekären "Arbeits- und Sozialversicherungsverhältnisse" spielen natürlich keine Rolle in der Berufswahl von Frauen und Menschen mit Herkunft aus der Arbeiterklasse, wenn man Wiedemann folgt (wozu ich nicht rate).

Was hält denn z.B. das ZDF für eine angemessene Bezahlung eines Regisseurs?
Dazu gibt es eine "Gemeinsame Vergütungsregel", wonach für einen "fiktionalen Fernsehfilm von 90 Minuten" von einem bereits erfahrenen Regisseur (min. 2 Filme) 27.820 Euro brutto und für einen "Anfänger" 22.260 Euro brutto gezahlt werden.
Vor Steuern und Sozialabgaben.
Dazu überträgt der Regisseur alle Rechte an die Nutzung an das ZDF: "zeitlich, räumlich und inhaltlich unbeschränkt".
Ich überlasse es dem Forum, diesen Verdienst einzuordnen.

In der Studie "Gender und Fernsehfilm" werden weitere Faktoren genannt, die objektive Hürden für Frauen in der Branche darstellen (S. 7): "Die Interviews haben gezeigt, dass die freiberuflich arbeitenden Kreativen in der Fernseh-, ebenso wie in der Filmbranche, einer permanenten Drucksituation ausgesetzt sind. Denn es wechseln sich sehr arbeitsintensive Phasen mit Orientierungsphasen ab, die durch berufliche Ungewissheit geprägt sind. Die schlechte Planbarkeit von Projekten und die sich aus der projektbezogenen Arbeit ergebende Unsicherheit in Bezug auf das Einkommen, stellen Herausforderungen dar, die insbesondere von Frauen als problematisch bewertet werden."

Das geht über die sprichwörtlich schlechte "Vereinbarkeit von Beruf und Privat- bzw. Familienleben" noch hinaus. Die Frage ist eher, ob man sich in dieser Branche perspektivisch eine Familie leisten kann, wenn deren Finanzierung ungesichert ist.

Interessanter als das worüber Wiedemann berichtet ist m.E. das, worüber er nicht berichtet.

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