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  • archenoe

mehr als 1000 Beiträge seit 05.02.2004

Soziale Lage

Interessant, aber offenkundig seit Entwicklung des Sinus-Modells
hartnäckig der Wahrnehmung entzogen, obwohl unmittelbar ersichtlich
ist, dass die Sinus-Kartoffeln
1. aktuell eine Verballhornung des ursprünglichen Modells darstellen,
weil die Kartoffeln nunmehr mit den klaren Trennlinien ihrer Schalen
nebeneinander liegen, während sie sich ursprünglich als Mengenblasen
überlappten
und 
2. in der Vertikalen umstandslos in die "soziale Lage" einsortiert
werden.

Die "soziale Lage" aber kann nur mit Schichtmodellen beschrieben oder
mit Klassenmodellen analysiert werden. Insofern können Sinus-Studie
und andere Milieustudien ohnehin nur Fingerzeige auf Verhaltensmuster
geben, nicht aber die politisch-ökonomisch bedingte Sozialstruktur im
Ist-Zustand beschreiben oder gar ihre Entwicklung und permanente
Reproduktion ursächlich erklären. Und das geben die Sinus-Modellbauer
durch ihr Schaubild auch offen zu. Insofern fragt man sich, was nun
der Aufreger an diesem Modell sein soll, dass instrumentell
phasenweise für Werbung, Verkaufsstrategien, politische
Zielgruppenarbeit usw. einsetzbar war.

Warum "die deutsche Soziologie" sich mit wenigen Ausnahmen kaum mehr
für die politisch-ökonomische Sozialstruktur interessiert und sich
stattdessen mit dem fragwürdigen Beckschen Individualisierungstheorem
vergnügt hat, ist eine andere, allerdings bedeutsame Frage.
Immerhin hat es ja Versuche gegeben, das Schicht- zum Lagenmodell zu
erweitern, indem nicht mehr nur Maßstäbe wie Einkommen, Bildung,
Entscheidungsbefugnis, Prestige zur Anwendung kommen, sondern auch
die Unterscheidung z.B. in Erwerbstätige und Nichterwerbstätige oder
in Westdeutsche und Ostdeutsche mit diesen kombiniert werden. Welchen
Erkenntniswert allerdings die daraus in großer Zahl angeblich
ermittelbaren "sozialen Lagen" haben sollen, bleibt schleierhaft.

Rainer Geißler, der von der Bundeszentrale für politische Bildung als
Sozialstruktur-Guru verkauft wird, und Stefan Hradil
(Lebensstilforscher, der den Bezug zur gesellschaftsstrukturierenden
Ökonomie und Politik noch nicht ganz verloren hat), sind wohl die
besonders häufig zitierten Sozialstrukturforscher, die aber - meine
Position - bei weitem nicht an das Klaasenmodell von Bourdieu und die
Weiterentwicklungen des an Marx anschließenden Klassenmodells (die
kaum jemand wahrnimmt) heranreichen. Ist ja auch nicht erstaunlich,
weil die Forschungsperspektive der bürgerlichen Soziologie ein
unüberwindbares Hindernis dafür ist, die Prozesse der permanenten
Reproduktion der Klassengesellschaft aufzudecken. Vereinfacht:
Bürgerliche Soziologen wollen es nicht.  
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