Herbert Wichmann schrieb am 24.08.2024 15:07:
Da liegen Sie ebenfalls falsch obwohl ich Ihnen zugestehe, dass die demokratischen Verhältnisse in der Ukraine noch nicht perfekt sind. Der Wille sich zu einem demokratischen Staat zu entwickeln, ist jedoch erkennbar. Darf man einen Staat deswegen überfallen und vernichten, weil er noch nicht perfekt ist?
Habe ich das irgendwo behauptet?
Nein, das haben Sie nicht, aber eines der Ziele des Putin Regimes ist es, einen imaginären Nazi Staat zu entnazifizieren, der angeblich keine Demokratie ist.
Was immer auch Putins Ziele sind: für diese bin ich - Zum Glück - nicht verantwortlich.
Abgesehen davon: die Ukraine ist keine Demokratie und der "Nazi-Staat" ist insofern nicht imaginär, als dort Teile der ukrainischen Armee offen mit Nazisymbolik unterwegs sind, zudem in der Ukraine auch des Völkermords schuldige Nazi-Kollaborateure verehrt und auch der Waffen-SS gehuldigt wird.
Allerdingts ist dies alles nicht weiter relevant, wenn wir den russischen Angriffskrieg völkerrechtlich einordnen wollen: es ist verboten einen anderen Staat anzugreifen. Auch wenn dieser keine Demokratie und ein "Nazi-Staat" ist.
Abgesehen davon: in diesem Absatz ging es darum, ob die Ukraine tatsächlich eine Demokratie ist - und das ist sie eben nicht.
Das ist Ihre Ansicht. Ich bin der Ansicht, dass die Ukraine eine Demokratie ist und dass das Parlament, die Regierung und der Präsident demokratisch gewählt wurden. Ganz im Gegensatz zu dem russischen Despoten, der sich durch Einschüterung, Mord und Wahlfälschung an der Macht hält.
Sie dürfen jeder nur denkbaren Ansicht sein. Das ändert aber nichts daran, dass in der Ukraine wichtige Oppositionsparteien verboten wurden, wichtige Medien verboten wurden - und auch der Demokratieindex die Ukraine - immer noch wohlwollend - als hybride Mischform und nicht als Demokratie einstuft.
Die verbotenen Parteien wollten den Rechtsstaat nicht auflösen, die verbotenen Medien wollten das auch nicht - und von der Regierung abweichende Meinungen sind nun mal zulässig in einer Demokratie.
Der demokratische Staat hielt die prorussischen Parteien und die prorussischen Propagandamedien für eine Gefahr. Aus meiner Sicht zurecht. Russia Today ist nicht nur in der Ukraine verboten. Zwischen der abweichenden Meinung eines Redakteurs und der systematischen Verbreitung von Desinformation durch die russische Propaganda gibt es erkennbare Unterschiede.
Das Verbieten von Opposition und Medien erfolgt traditionell gern mit den von Ihnen genannten Argumenten der "Gefahr" und der "Desinformation".
Machen wir mal ein Gedankenexperiment: was wäre gewesen wenn in einer fairen und freien Wahl 2019 eine Mehrheit der Wähler in der Ukraine für eine "prorussische" Partei gestimmt hätte? Müsste man das - ganz Sinne der Demokratie - als Wille des Volkes anerkennen?
Im damals ausgehandelten Abkommen war verankert, dass Russland sich aus allen seit Febrauer 2022 besetzen Gebieten zurück zieht. Für Russland war eine neutrale Ukraine das entscheidende Motiv.
Ich hatte das etwas anders in Erinnerung. Es existierte meines Wissens auch kein vollständig ausgehandeltes Abkommen sondern lediglich Fragmente. Voraussetzung jedes Abkommens wäre auch, dass man dem Vertragspartner vertrauen kann. Eine Vertrauensbasis ist bei Lügnern und Geschichtsverdrehern wie Lawrow und Putin nicht vorhanden. Es ist aus meiner Sicht auch nicht möglich, einen Staat zur Neutralität zu zwingen, wenn eine überwiegende Mehrheit dies nicht will.
Es gibt dazu einen sehr ausführlichen Bericht in der Neuen Zürcher Zeitung:
Russland und die Ukraine wollten den Krieg gleich zu Beginn beenden
[...]
Die zwei Delegationen setzten ihre Gespräche in Videokonferenzen fort, am 29. März aber trafen sie sich wieder direkt, dieses Mal in Istanbul. Dort, so schien es, erzielten sie einen Durchbruch. Nach dem Treffen verkündeten beide Seiten, sie hätten sich auf ein gemeinsames Communiqué verständigt. Die Abmachungen wurden in Erklärungen vor der Presse in Istanbul allgemein beschrieben.
[...]
«Wir waren Mitte April sehr nahe, den Krieg mit einem Friedensschluss zu beenden», erzählte Olexander Tschali, einer der ukrainischen Verhandler, bei einem öffentlichen Auftritt im Dezember 2023. (Hervorhebung durch mich)
Es gab also bereits eine sehr konkrete Abmachung über die beide Seiten Einigung erzielen konnten.
Im Artikel steht auch, was Russlands tatsächliche Ziele waren - insbesondere waren das:
- Die Ukraine würde jede Absicht aufgeben, ein Militärbündnis einzugehen oder ausländische Militärbasen oder Truppen auf ihrem Boden zu erlauben.
- Sie verlangten von der Ukraine, «Faschismus, Nazismus, Neonazismus und aggressivem Nationalismus» zu entsagen
Es ging Russland also tatsächlich um Neutralität und "Entnazifizierung" - und nicht um Land und Bodenschätze.
Darüber hinaus war sogar eine Lösung für die Krim verhandelt worden!
Quelle: https://www.nzz.ch/international/wie-russland-und-ukraine-eine-chance-verpassten-den-krieg-zu-beenden-ld.1827138
Von Gebietsgewinnen oder Bodenschätzen - wie Sie das unterstellen - war nie die Rede.
Ich unterstelle das nicht sondern beziehe mich auf die Aussage von Prigoschin.
Progoschin war - gerade zum Zeitpunkt dieser Aussage - vollständig befangen. Fakt ist: die tatsächlichen Bedingungen, die Russland wichtig waren, stehen schwarz auf weiss im Communiqué von Istanbul.
Im Übrigen wollen Hunderttausende Ukrainer schon jetzt nicht mehr für die Kriegsziele ihrer Regierung sterben und es werden immer mehr. Am Ende werden alle einen Preis bezahlt haben - am schmerzlichsten und ungerechtesten ist es schon jetzt für die Ukraine, die einfach das Pech hat Spielball zweier Grossmächte geworden zu sein.
Das ist verständlich, aber einige Hunderttausend geben bei einem Volk von 44 Millionen nicht den Ausschlag. Russland hat vermutlich inzwischen über eine Million Menschen verloren, die nicht für die Kriegsziele ihres Regimes sterben wollen und wenn Putin demnächst Mobilisierte und Wehrpflichtige an die Front schickt, könnte es eher für ihn ungemütlich werden.
Die Ukraine zahlt einen hohen Preis, weil sie dazu gezwungen ist um zu überleben. Russland zahlt den Preis, weil ein gewissenloser Despot auf Raub und Machterweiterung aus ist und vom Zarenreich träumt.
Die Ukraine ist aus meiner Sicht nich Spielball zweier Großmächte sondern sie wird von Putin angegriffen, weil er keine liberale Demokratie, die sich dem Westen anschließt als Gegenmodell zu seiner Diktatur in der Ukraine dulden kann. Das würde seine Macht gefährden. Dass der Westen die Ukraine in ihrem Freiheitskampf gegen das russische Gewaltregime unterstützt, versteht sich von selbst.
Gemessen an der Zahl der Wehrpflichtigen sind ist die Zahl derer, die nicht (mehr) für die Ziele der ukrainischen Regierung kämpfen will enorm. Sie lesen auch in pro-westlichen Medien fast überall, dass der Ukraine die Soldaten ausgehen. Wären die Ukrainer so zum Krieg motiviert, wie Sie darstellen, sollte es doch überhaupt keine Rekrutierungsprobleme geben, oder?
Was Russlands Rolle angeht: ich sehe das sicherlich deutlich nüchterner als Sie, aber im Grundsatz sind wir uns einig.
Für die von Ihnen vermuteten Motive Russlands ist die Beweislage allerdings dürftig, während Russlands Wunsch nach einer neutralen Ukraine recht evident ist. Und was Russland ganz sicher nicht füchtet ist die - nur in Ansätzen vorhandene - Demokratie in der Ukraine. die mögliche Stationierung von Atomraketen bei einem NATO- Beitritt, mit nur noch minimalster Vorwarnzeit für einen möglichen Angriff bereiten Russland hingegen - nachvollziehbarerweise- echte Sorgen.
Ich respektiere, dass Sie eine andere Sicht haben, kann in Ihren Ausführungen allerdings lediglich - schwache - Hypothesen erkennen.
Der Westen hat - wie bereits früher in unserer gemeinsamen Diskussion dargelegt - massiv zur Eskalation beigetragen. Auch der Westen hat Ziele und Interessen in diesem Konflikt.
Erst der - vom Westen unterstützte - Staatsstreich, dann der - bereits bei Unterzeichnung beabsichtigte - Vertragsbruch des Minsker Abkommens, bis hin zur Verweigerung jeglicher Gespräche über die russischen Sicherheitsbedürfnisse (welche gemäß Völkerrecht unbestritten legitim sind) sind klarer Nachweis eines westlichen Vorgehens, das Russland zu Recht als gegen sich gerichtet interpretieren kann.