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Avatar von auf_der_hut
  • auf_der_hut

mehr als 1000 Beiträge seit 07.05.2008

Re: Das Debattenklima ist komplett verseucht!

Dieses ganze Opferrollen-Ding ist doch rechts wie links ähnlich.

Derzeit ist die sicherste Methode um von wildfremden Leuten in der Luft zerrissen zu werden, egal ob im direkten Gespräch oder online, sich z.B. positiv über das Gendern, die Grünen oder E-Autos zu äußern. Oder zu erzählen, dass man Veganer ist. Probieren Sie es spaßeshalber mal aus. Das ist eine weitaus sicherere Wette als einen Spruch gegen Selenskyi oder gegen die israelische Kriegführung loszulassen.

Dieser teils superaggressiven Debattenstil ist m.E. eine Folge der Regellosigkeit und Sicherheit in den sozialen Medien. Soziale Medien sind für Choleriker und Pöbler ein geschützter Raum, so ähnlich wie das eigene Auto. Da kann man Sachen raushauen, die man von Angesicht zu Angesicht so niemals sagen würde. Längerfristig wirkt das aber auch auf den Alltag zurück und enthemmt und vergiftet auch die direkten Gespräche. Denn unser Hirn hat im geschützten Raum dann schon oft die Erfahrung gemacht, dass Aggressivität, Lautstärke, Respektlosigkeit und das Eindampfen komplexer Zusammenhänge auf unterkomplexe, emotionale Botschaften belohnt werden, sich gut anfühlen und den meisten Applaus bringen.

Im Smalltalk werden dann immer mehr Themen vermieden, denn da geht es ja um die Erzeugung von Konsens und nicht um Debatte. Das konnte man gut während Corona beobachten, wo man erstmal vorsichtig abcheckte ob man einen "Querdenker" in der Runde hatte - dann das Thema bloß nicht anschneiden, das wird sonst kein gemütlicher Abend mehr. Wie bei "Faulty Towers": "Don't mention the war".

"Der Smalltalk der Deutschen ist das Meckern" sagt die Sprechtrainerin Laura Fonzetti (https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/kultur/small-talk-halten-so-findet-man-ein-gutes-thema-18248797.html). Oder Bismarck vor 200 Jahren: "Es ist ein Grundbedürfnis der Deutschen, beim Biere schlecht über die Regierung zu reden.“ Über kaum etwas lässt sich so schnell ein Konsens herstellen wie darüber, dass die Regierung (oder das Wetter) schlecht, die Politiker unfähig und alles ganz einfach zu lösen wäre, wenn man nur mal die richtigen Leute (also solche wie mich) ranlassen würde. Trotzdem wird es immer schwerer, Leute zu finden die an der Basis, also z.B. in der Kommunalpolitik oder in Ehrenämtern, echte Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. In der Verwaltung das gleiche. Weil dann sofort tausend Klugscheißer aus der sicheren Deckung heraus schießen, die die wirklichen Hintergründe nicht kennen und eigentlich auch gar nicht wissen wollen. Was sind schon 20 Jahre Erfahrung gegen ein YT-Video?

Das wichtigste Ziel ist, dass man sich gut fühlt, weil man mal gesagt hat "was Sache ist". Aber wirklich etwas verbessern möchte man eigentlich gar nicht. Und wissen was andere dazu meinen auch nicht. Das ist eben der Unterschied zwischen meckern und kritisieren.

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