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  • firedancer

mehr als 1000 Beiträge seit 26.01.2001

Die Philosophie und die Wissenschaft.

"Für die materialistische Dialektik entwickelt sich diese von
Widersprüchen angetriebene Dynamik der materiellen Welt nicht linear,
sondern ebenfalls in Sprüngen. Hierbei wird dann von einem "Umschlag
von Quantität in Qualität" gesprochen, bei dem quantitative
Veränderungen beim Überschreiten eines bestimmten Schwellwertes
qualitative Umbrüche zur Folge haben. Der positivistisch verödete
Wissenschaftsbetrieb - dem alles suspekt ist, was nicht vermessen und
in Zahlenform ausgedrückt werden kann - muss nun diese Marxschen
Erkenntnisse erst mühsam aus einer Unmenge empirischen Materials
wieder herausdestillieren."

Was für ein Gelaber. Hier geht es nicht um Philosophie, auch nicht um
"Dialektik", sondern um Kybernetik, um Systemverhalten. Es ist nun
mal CHARAKTERISTISCH für dynamische Systeme, dass sich nicht ihr
quantitatives, sondern nur ihr qualitatives Verhalten vorhersagen
läßt. Dies ist bereits in den 70ern untersucht worden und seitdem
essentielles Grundverständnis in den Wissenschaften und Basis der
Arbeit der Wissenschaftler. Es ist beispielsweise normal, dass sich
Systeme auch bei kleinen Änderungen an einem ihrer Parameter radikal
ändern können. Ebenso normal ist, dass es keine linearen
Zusammenhänge gibt, und dass diese zeitlich versetzt stattfinden
können. Mit "Dialektik" hat das nichts zu tun. Ebensowenig das
Bemühen der Wissenschaft, trotz aller eigentlich mathematischen
Unmöglichkeit dennoch gewisse quantitative Abschätzungen zu treffen,
da nun mal - leider - der Politik und den Menschen ihre
Einschätzungen - trotz aller Widersinnigkeit - nur mit solchen
Aussagen etwas anfangen wollen.

Formulierungen des Autors der Art wie "positivistisch verödete
Wissenschaftsbetrieb" zeugen von einer weitgehenden Unkenntnis
dessen, welcher Art das Bewußtsein in unseren Universitäten
existiert: Erst vor wenigen Tagen konnte ich per Zufall einem
Kurzvortrag eines Vertreters eines Sonderforschungsbereiches
beiwohnen, der - ohne es zu wissen - ein grundsätzliches
Forschungsverständnis herausgestellt hat, die den Autor des
TP-Artikels der Lüge straft. Bei allem Respekt: Vielleicht hätte der
Autor des Artikels weniger Philosophen, Marx oder Wagenknecht lesen,
sondern sich stattdessen mal selbst vor Ort in den Universitäten ein
Bild der Dinge machen sollen. Und vielleicht auch mal was über
Mathematik und Systemtheorie. So ist das vom Autor gebrachte Zitat
auch recht bezeichnend:

"Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, daß in der Natur,
in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative
Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder
quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sog. Energie).
Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf
verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen
resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall,
auf beiden." Und ein Wort des Autors dazu: "Der "quantitative Zusatz"
in unserem Klimasystem ist die permanent steigende CO2-Konzentration,
die eben beim Erreichen eines bestimmten Punktes das besagte
Umschlagen des Klimasystems mit sich bringt."

Kein Wort von Rückkopplung, kein Wort von der Stabilität oder
Instabilität von Systemzuständen, kein Wort von mit der Rückkopplung
einhergehende Effekte wie Oszillation und chaotischem Verhalten. Das
aber wäre die Essenz, die es in diesem Kontext gewissermaßen auf
"philosophischer" Ebene zu begreifen gelten würde. Genau das ist aber
die Grundlage dessen, wie die Wissenschaft im Umfeld der
Klimaforschung die Welt begreift: Als rückgekoppeltes, komplexes
System. Daher ist der alleinige Verweis auf CO2, wie es unser
TP-Autor hier macht, auch grundsätzlich unzulänglich und eine
reichlich naive Vereinfachung: Aus gutem Grund begibt sich die
Wissenschaft nicht in eine solche Falle und betrachtet wesentlich
komplexere Zusammenhänge. Dass sich Zustände ändern können, ist
trivial: Ist zwar schön, dass Marx und auch Engels und andere das
erkannt haben, aber es ist trivial: Das WANN und WIE eine Änderung
geschieht, das ist das entscheidende. Das ist Gegenstand der
Betrachtung. Und seit Jahrzehnten Gegenstand von Forschung in allen
möglichen Gebieten der Wissenschaft.

Und so gesehen ist sein nachfolgender Satz auch völliger Unsinn: "In
einem gewissen Sinne entdeckt die Naturwissenschaft somit tatsächlich
gerade die Marxsche materialistische Dialektik neu - freilich ohne
dies zu bemerken." Die Naturwissenschaft entdeckt nichts neu, sie
wendet seit den 70ern ein damals völlig neu entdecktes
Systemverständnis weiter. Und vor allem konsequent weiter AN. Ein
Systemverständnis, welches kein Marx und kein Engels und kein
sonstwer damals in dieser Qualität besaß. Möglicherweise entdeckt in
dieser Sache der Autor hier etwas neu, aber nicht die Wissenschaft.
Die Ausdrucksform der "Dialektik", wie sie Marx besaß, ist
letztendlich nämlich nur die Spitze des Eisberges im Verständnis von
Systemen. Marx war sicherlich damals auf der richtigen Spur, aber im
Vergleich zu heute steckte sein Verständnis noch in den
Kinderschuhen. Verständlicherweise: Seit Marx' Arbeit ist
logischerweise viel Zeit vergangen, in der die Wissenschaft
keineswegs untätig war, sondern sich intensiv mit unterschiedlichen
Aspekten der Realität befaßt hat: Unter anderem mit Systemen der
unterschiedlichsten Form.

Es ist betrüblich zu lesen, wenn sinnvolle und wichtige Informationen
der Wissenschaft zusammen mit irgendwelchen scheinbar ideologisch
motivierten Verweisen auf Marx wiedergegeben werden. Das ist der
Sache nicht förderlich. Hier geht's nicht um philosophische Konzepte,
sondern um harte Mathematik: Um Systeme. Um Rückkopplungsprozesse, um
Attraktoren. Adäquat wäre eine Aufbereitung der Botschaften der
Wissenschaftlern aus Sicht der Kybernetik und der Systemtheorie
gewesen: Denn das ist das Fundament, auf dem alles steht. Die
Philosophie ist nur ein Gedankenmodell: In sich mit sicherheit höchst
interessant, aber dennoch nur ein Modell. Noch dazu eines, mit sehr
wenig Bezug zur Mathematik und Physik, um die es hier geht. Eines in
dass die Realität zu pressen nicht sinnvoll ist. Die Mathematiker,
Physiker und Biologen, die am Verständnis und der Modellierung der
unterschiedlichen sich abspielenden Prozesse in der Realität durch
althergebrachte, philosophische Konzepte keinen einzigen Schritt
weiter.


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