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  • kamka

mehr als 1000 Beiträge seit 01.05.2002

Welche Motivation führte Walser zur Figur des "Elrkönigs"?

Diese Fragestellung versuchte Gustav Seibt in der Süd-
deutschen Zeitung am 1. Juni 2002 in seinem Artikel

"Warum Erlkönig?"

zu beantworten. Hier sollen die entsprechenden Passagen
wiedergegeben werden:

"...Der Gedanke, den Kritiker als diesen Nachtreiter und
die eigenen Werke als sterbende Kinder zu verstehen, muß
Martin Walser am 3. Dezember 1960 gekommen sein.

An diesem Tag erschien in der FAZ einer der fürchterlich-
sten Zerrisse der deutschen Literaturgeschichte. Er stam-
te aus der Feder von Friedrich Sieburg, galt Walsers Ro-
man "Halbzeit" und begann mit dem Satz:

'Als mir das Buch wie ein Neugeborenes ganz behutsam und 
mit einem fast religiös geflüsterten Kommentar, der mich 
zur Ehrfurcht aufrief, in die Arme gelegt wurde, trug der
Bergahorn noch seine Blätter.'

Danach folgte die plastische wie höhnische Schilderung ei-
ner achtmonatigen Lektürequal, während die Bäume sich ent-
laubten und sich in jene toten Blätter verwandeln, aus de-
nen laut Sieburg Walsers Roman bestand.

Am Ende ist der Patient tot, Sieburg hat Walsers Buch denk-
bar elegant, aber auch denkbar demagogisch erledigt.

Sieburgs legendäre Rezension("Toter Elefant auf einem Hand-
karren") prägte die wichtrigsten Stereotypen der Walser-
Kritik bis heute: das Mißverhältnis von rhetorischen und er-
zählerischen Qualitäten, von Gewalt der Sprache und Armse-
ligkeit von Handlung und Figuren. 

Auch Reich-Ranickis vierzig Jahre währende Befassung mit Wal-
ser verließ selten die von Sieburg gelegten Gleise. Kein
Zweifel, dieser Verriß saß, und er war unabasehbar folgen-
reich für Walser, eine wahre Hypothek auf seinem Leben als
Autor.

Noch Andre Ehrl-König im jüngsten, skandalträchtigen Werk 
Walsers hantiert mit Sieburgs Argumenten von 1960. Das darf
man Schicksal nennen. 

Als Fußnote sei angemerkt: Friedrich Sieburg war keine Jude..."

Anmerkungen:

1. Ich habe mir erlaubt die Rechtschreibung zu verwenden in
Abweichung des Originaltextes, die es erlaubt, daß fast alle
Leser den Text aus historsicher Sicht annähernd sicher inter-
pretieren zu können.

2. Friedrich Sieburg kann man als Opportunist der NS-Zeit 
bezeichnen. Er galt deshalb in der Gruppe 47 als "Lieblings-
feind". Im Netz findet man Quellen, die sich mit Sieburgs
Rolle in der NS-Zeit befassen. Er selber hat zahlreiche 
Schriften verfaßt, darunter auch eine über Robespierre.     



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