Habe eine Idee für eine Äpp, mit der man dummen Menschen Geld oder Daten aus der Tasche ziehen kann, finde einen oder mehrere Investoren, heuere ein paar erfahrene und mehrere unerfahrene Entwickler als Code-Monkeys an, die dann möglichst viele Features umsetzen, um möglichst schnell an den Markt zu kommen. Investiere kräftig in Werbung, damit möglichst viele Dumme Deine Äpp auf ihr deutlich schlaueres Telefon laden, so dass der Investor seinen Retörn bekommt.
Wenn Dir dann alles um die Ohren fliegt, weil dabei jedes Grundprinzip der Softwareentwicklung (immerhin eine Ingenieursdisziplin) verletzt wurde, selbst wenn Ihr mit flachen Hierarchien, Scrum oder Kanban gearbeitet habt und es im Büro einen Kicker gab, dann musst Du ein paar wirklich fähige Softwareentwickler einstellen, die sich mit Docker und Microservices und so Zeugs auskennen und die wirklich wissen wie man nachhaltigen Code schreibt und den Legacy-Mist refactored. Aber bis dahin hattest Du mit Glück schon genug Dumme gefunden, so dass Deine Äpp auch neue Investoren anlocken wird.
Und schon existiert ein völlig überflüssiger Geldstaubsauger am Markt und Du kannst Dir Deine Gentrifizierungswohnung in Hamburg oder Berlin leisten und konntest früher Release-Parties geben.
Aus meiner Erfahrung ist es dabei meistens so, dass die Entscheidungsträger entweder Leute mit BWL- oder ähnlichem Hintergrund sind oder irgendwelche Alt-Techies, die sich für den nächsten Steve Jobs halten oder gerne gehalten werden würden, die aber von den Tuten und Blasen der Softwareentwicklung keine Ahnung haben oder glauben, man könne sie ignorieren, und oft noch nicht einmal von der eigentlichen Domäne selbst, geschweige denn von Personalführung, aber sie sind einfach sehr genial und kreativ, weil sie eine Idee hatten. Das mit der Domäne regelt man gerne mit jungen Frauen in der Marketing-Abteilung und das mit der Personalführung redet man sich als kurze Entscheidungswege schön, also man weiß eigentlich gar nicht, was man tut, und entscheidet ad hoc, gerne mit Floskeln wie "schnell mal eben kurz" oder "das hat jetzt höchste Priorität".
Es ist aber auch so, dass die meisten Entwickler, denen ich begegnet bin - eigentlich fast alle - viel gejammert, aber niemals aufgemuckt haben. Selbst die erfahrenen und die älteren, die noch Informatik-Theorie kennen, machen diese sinnlose Jagd auf die Features wider besseren Wissens mit und sind damit genauso verantwortlich. Darüber gibt es sogar ein Buch, das wesentlich weniger gelesene, aber meiner Meinung nach wesentlich wichtigere Clean Coder vom gleichen Autor wie Clean Code.
Für unerfahrene Entwickler geht es eh nur um die Abnahme der Arbeitstickets, egal was sie dabei in bestehendem Code mitunter anrichten können. "Clean Code" bedeutet für sie einfach die Anwendung des jeweils neuesten Framework-Hypes, und zwar für jedes sich bietende Problem ("dann mach ich da nen Stream hin"), was übrigens auch ein Phänomen unter älteren Entwicklern ist, welches ich nie so ganz begreifen konnte. Letztendlich ist das Framework relativ egal, sondern es kommt aus den Code an und auf die Grundprinzipien:
https://glossar.hs-augsburg.de/Programmierprinzipien
Nach meiner Erfahrung vor allem immer um Wartbarkeit, Erweiterbarkeit, Wiedervendbarkeit, andere Prinzipien sind je nach Situation mal mehr, mal weniger wichtig. Schreib Deinen Code stets so, dass Du möglichst nie ihn wieder anfassen musst, aber leicht um neue Features erweitern kannst. Das geht, aber dazu braucht man Erfahrung und vor allem erstmal viel Zeit dafür, um möglichst nicht alleine darüber nachzudenken. Dafür werden die da unter Smudos notorischer Über-Hipness keine Zeit haben.
Und nach dem, was im Artikel beschrieben wurde, testen die nicht. Das ist typisch, besonders für die Fehler dort (und kein Testen ist ja auch eine "Strategie"), weil keine Zeit, aber nichts beisst einem am Ende so in den Arsch wie keine oder nur unzureichende Tests. Mir hat mal mein damaliger Chef in einem Meeting, in dem ich doch wenigstens Unit-Tests in die Abnahmekriterien mit aufnehmen wollte, wort-wörtlich gesagt: "Tests sind doch nur dazu da, Fehler zu finden, wir müssen aber verhindern, dass wir Fehler machen." Der Mann war selbst Softwareentwickler mit, ich glaube, neun Jahren Berufserfahrung und ein echt netter Kerl. Leider hatte keiner meiner Mit-Entwickler dazu etwas gesagt. Ich verließ das Meeting wutschaubend und rauchte damals noch eine Zigarette.
Ein Austausch zwischen Erfahrenen und Unerfahrenen findet eh selten oder nur unzulänglich statt, und Pair Programming und Wissenstransfer sind live etwas vollkommen anderes als virtuell, was heute sicher noch als Problem hinzu kommt. Ich hab schon häufig Leute gecoached, auch via Skype in andere Länder, und Du brauchst einfach die volle Empathie, die nur bei körperlicher Anwesenheit und Sichtbarkeit gegeben ist. Ich denke, jeder, der etwas von Didaktik versteht oder Erfahrung hat, kann das bestätigen.
Leider sind IT-ler im Allgemeinen ein ziemlich braves und biederes Volk, sonst wäre es mal interessant, wenn da der einer oder die andere in die Pfeife bläst. Mit gesetzlichen Regelungen wird nämlich in der Regel nach dem Kläger-Richter-Prinzip verfahren. Da fühlt man sich auch gerne etwas cool und rebellisch dabei, also nicht bloß genial und kreativ, aber wenn eine Klage aus den USA kommen könnte, dann machen wir es, dann müssen wir eben in die Arbeit investieren.
Naja, und wenn nun die Jungs von den Fantas, die ich schon immer etwas piefig fand, mit ihren Millionen ins IT-Geschäft einsteigen, dann ist das sicher nicht besser als die Fatzkes, die ich so erleben durfte. Ich arbeite zwar immer noch als Entwickler, aber nur noch Teilzeit, und auf keinen Fall mehr im Web-Geschäft. Man kann auch Angular-Frontends entwickeln (mache ich am liebsten) und gelegentlich auch mal am Backend herum tüfteln, ohne dass es sich um die nächste obercoole Super-Äpp handelt. Ich brauche auch keinen Kicker oder freies Obst, das sind alles nur Knebel, damit man die Chefs (in der Regel sind es zwei, manchmal ein Pärchen, meistens aber zwei große Jungs, die sich aus dem Studium kennen) auch lieb hat, denn wir sind ja alle eine Familie.
Jedenfalls, die ganze IT-Szene (zumindest in Hamburg) ist im Grunde auch nur ein Haufen Blender, vermutlich, weil sie heimlich doch gerne alle Kalifornier wären.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (07.04.2021 17:20).