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http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artike
l8002.php
1.10.2002 SZ Interview mit Noam Chomsky von Willi Winkler
Maschinen, die Macht ausüben
Der amerikanische Linguist und Politikkritiker Noam Chomsky über die
Weisheit des Militärs, die Gründe des Hasses auf die USA und
politische Vergesslichkeit
An der U-Bahn-Haltestelle Kendall in Boston sind die großen Namen des
Massachusetts Institute of Technology (MIT) verewigt: Physiker,
Chemiker, Informatiker. Dazwischen steht auch Noam Chomsky mit seinem
grundlegenden linguistischen Werk "Strukturen der Syntax" (1957),
denn die gesamte moderne Linguistik geht auf Chomsky und seine
Forschungen zur Sprache zurück. Seit den 60er Jahren ist der
inzwischen 73-jährige Sprachwissenschaftler außerdem bekannt und
sogar berüchtigt als Kritiker der amerikanischen Interventionspolitik
von Vietnam bis zum Irak. Antiimperialisten, Globalisierungskritiker
und Ökologen berufen sich auf Chomsky, der so eloquent vor der
amerikanischen Weltbeherrschung zu warnen versteht.
Überraschenderweise ist Chomsky aber kein Sektierer, sondern ein
höflicher, gebildeter und immer pädagogisch argumentierender
Gelehrter. Er ist Mitinitiator des Antikriegs-Aufrufs "Nicht in
unserem Namen". Auf Deutsch sind zuletzt erschienen die Bücher
"Profit over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung" und
"War Against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten"
(Europa-Verlag).
SZ: Mr. Chomsky, am Anfang Ihrer akademischen Laufbahn haben Sie
Hebräisch unterrichtet. Heute kritisieren Sie die Politik Israels.
Noam Chomsky: Als junger Mann war ich politischer Aktivist und
kämpfte für einen sozialistischen Bi-Nationalismus, der auf einer
jüdisch- arabischen Zusammenarbeit beruhte. Meine Frau und ich
reisten 1953 nach Israel, lebten im Kibbuz und überlegten, ob wir
bleiben sollten. Hätte ich den Job am MIT nicht bekommen, wäre ich
wohl dort geblieben.
SZ: Was hätten Sie denn dort gemacht? Als Gärtner gearbeitet?
Chomsky: Wahrscheinlich hätte ich mit jedem gestritten. Mir hat es da
sehr gefallen, aber ich war bei verschiedenen Sachen deutlich anderer
Meinung. Es handelte sich um ein sehr linksgerichtetes Kibbuz,
eigentlich das Zentrum der Arbeit mit Arabern, aber es war auch
super- stalinistisch. Und ich war von klein auf antibolschewistisch.
SZ: Wie sind Sie dann zur Linguistik gekommen?
Chomsky: Das College langweilte mich so fürchterlich, dass ich mit 16
praktisch aufhörte. Durch politische Kontakte lernte ich Zellig
Harris kennen, der in diesen bi-nationalen zionistischen Gruppen
mitarbeitete. Er war, wie ich erfuhr, der Leiter der
Linguistikabteilung meiner Hochschule. Ich habe aber keinerlei
akademischen Qualifikationen, ich besitze kein Diplom oder einen
richtigen Abschluss.
SZ: Aber Sie sind doch Professor?
Chomsky: Am MIT, denen war das wurscht. An einer richtigen
Universität hätte ich nie Professor werden können, weil mir die
formalen Voraussetzungen fehlen.
SZ: Wenn Sie sagen, Sie waren ein Anti- Bolschewik, waren Sie dann
Trotzkist?
Chomsky: Nein, auch kein Trotzkist. Als ich zwölf war, hatte ich all
diese Phasen durch.
SZ: Schon mit zwölf?
Chomsky: Ja, und ich wurde dann ein Art linker Anarchist.
SZ: Hier im Regal stehen Bücher von Rosa Luxemburg.
Chomsky: Das müssen noch die Bücher sein, die ich mir vor 60 Jahren
in New York gekauft habe. Vor der bolschewistischen Revolution in
Russland gab es eine Strömung im Marxismus, die anti-bolschewistisch
war - Rosa Luxemburg, Liebknecht, Anton Pannekoek -, sie stehen alle
hier.
SZ: Haben Sie dafür auch Deutsch gelernt?
Chomsky: Nur ganz wenig.
SZ: In einer Fußnote der "Generativen Textgrammatik" zitieren Sie
Wilhelm von Humboldt. Es geht darum, wie sich mit Hilfe
internalisierter Regeln neue Sätze bilden oder "generieren" lassen.
Sie führen das "Generieren" auf den Begriff "erzeugen" bei Humboldt
zurück.
Chomsky: Ich weiß nicht, ob Sie je Humboldt gelesen haben, er ist ein
sehr schwieriger Schriftsteller. Selbst Muttersprachler rätseln, was
in diesen dunklen Sätzen ausgesagt ist. Ich habe Humboldt mit Hilfe
eines Freundes aus Deutschland gelesen - Hans Viertel. Sein Bruder
wurde ein bekannter Drehbuchautor...
SZ: Peter Viertel, der "African Queen" mit Humphrey Bogart und
Katharine Hepburn geschrieben hat.
Chomsky: Hans hatte mit Brecht und Fritz Lang gearbeitet, bei
"Hangmen Also Die". Wir gaben uns große Mühe, Humboldt zu verstehen.
Wir entdeckten eine Stelle, an der er überlegt, wie Sprache entsteht.
Es war kein neuer Gedanke, er zieht sich durch die ganze Aufklärung
und die Romantik und geht wahrscheinlich auf die Philosophie von
Descartes zurück. Es steht doch alles schon bei den Klassikern, sie
werden nur nicht gelesen.
SZ: Nur gelehrt.
Chomsky: Oder anthologisiert. Sie müssen zum Text zurückgehen und
sich anschauen, was und wie im 18. Jahrhundert gedacht wurde - das
ist zufällig mein Lieblingsjahrhundert -, und seitdem ging es
natürlich nur bergab.
SZ: Kein Einspruch, Euer Ehren.
Chomsky: Humboldt sagt es sehr poetisch: Wenn man ein schönes Objekt
sieht, das jemand unter Zwang und in Lohnarbeit angefertigt hat, dann
können wir zwar bewundern, was dieser Mensch geleistet hat, werden
aber das verachten, was er ist. Humboldt spricht da von
fremdbestimmter Arbeit im Unterschied zum eigenen kreativen Wollen.
SZ: Das ist ja reiner Marxismus.
Chomsky: Nein, es verhält sich genau umgekehrt: Marx hat von der
romantischen Tradition gelernt. Das ist das Milieu, in dem er
aufgewachsen ist. Die Romantiker entwickelten eine kritische Lesart
der Aufklärung, und so fand sie Eingang in den frühen Marx.
SZ: Aber jetzt was anderes: Ist es nicht so, dass das MIT vom Militär
mitfinanziert wird?
Chomsky: Wieso nur mitfinanziert? In den 60er Jahren, als ich gegen
Vietnam protestierte, habe ich in einer Abteilung gearbeitet, die zu
100 Prozent vom Militär finanziert wurde. Lustigerweise war es damals
eine viel offenere und liberale Einrichtung als heute, wo die großen
Firmen Einzug gehalten haben. Der Grund ist einfach: Das Pentagon
begreift, was die meisten Wirtschaftsleute nicht zu verstehen
scheinen, nämlich dass die Wirtschaft auf einem sehr dynamischen
Staatssektor basiert, der gefördert werden muss. Und diese Förderung
kam im wesentlichen vom Militär. Die gesamte moderne Wirtschaft, die
so genannte new economy - Computer, Internet, Telekommunikation,
Automatisierung, Laser -, entstand im Staatssektor und kam zumeist
aus dem militärischen Bereich.
SZ: Sollten Ihre Forschungen nicht auch militärisch genutzt werden?
Chomsky: Dafür waren sie viel zu abstrakt. Das Militär hat meine
Arbeit finanziert, aber das Ergebnis war denen egal.
SZ: Aber sollten nicht die Grundregeln Ihrer generativen Grammatik
jedem Soldaten in den Rucksack gepackt werden für den Fall, dass er
im fremdsprachigen Ausland abgeschossen wurde?
Chomsky: Das sagen die Leute, aber im Ernst dachte niemand daran. Ich
habe es schon gesagt: Die Militärs finanzieren Forschung und
Entwicklung, weil sie annehmen, dass es sich früher oder später
auszahlen wird. Aber die eigentliche Arbeit hat sie nicht
interessiert.
SZ: Und diese Militärs wollten Sie nie rausschmeißen, als Sie gegen
den Vietnamkrieg protestierten?
Chomsky: Vielleicht haben sie es erwogen, aber ich habe nie etwas
davon erfahren. Und ich war umstritten, ich habe Aktionen gegen den
Krieg organisiert, ich war mehrfach im Gefängnis, aber für eine
Entlassung gab es kein Anzeichen.
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artike
l8002.php
1.10.2002 SZ Interview mit Noam Chomsky von Willi Winkler
Maschinen, die Macht ausüben
Der amerikanische Linguist und Politikkritiker Noam Chomsky über die
Weisheit des Militärs, die Gründe des Hasses auf die USA und
politische Vergesslichkeit
An der U-Bahn-Haltestelle Kendall in Boston sind die großen Namen des
Massachusetts Institute of Technology (MIT) verewigt: Physiker,
Chemiker, Informatiker. Dazwischen steht auch Noam Chomsky mit seinem
grundlegenden linguistischen Werk "Strukturen der Syntax" (1957),
denn die gesamte moderne Linguistik geht auf Chomsky und seine
Forschungen zur Sprache zurück. Seit den 60er Jahren ist der
inzwischen 73-jährige Sprachwissenschaftler außerdem bekannt und
sogar berüchtigt als Kritiker der amerikanischen Interventionspolitik
von Vietnam bis zum Irak. Antiimperialisten, Globalisierungskritiker
und Ökologen berufen sich auf Chomsky, der so eloquent vor der
amerikanischen Weltbeherrschung zu warnen versteht.
Überraschenderweise ist Chomsky aber kein Sektierer, sondern ein
höflicher, gebildeter und immer pädagogisch argumentierender
Gelehrter. Er ist Mitinitiator des Antikriegs-Aufrufs "Nicht in
unserem Namen". Auf Deutsch sind zuletzt erschienen die Bücher
"Profit over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung" und
"War Against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten"
(Europa-Verlag).
SZ: Mr. Chomsky, am Anfang Ihrer akademischen Laufbahn haben Sie
Hebräisch unterrichtet. Heute kritisieren Sie die Politik Israels.
Noam Chomsky: Als junger Mann war ich politischer Aktivist und
kämpfte für einen sozialistischen Bi-Nationalismus, der auf einer
jüdisch- arabischen Zusammenarbeit beruhte. Meine Frau und ich
reisten 1953 nach Israel, lebten im Kibbuz und überlegten, ob wir
bleiben sollten. Hätte ich den Job am MIT nicht bekommen, wäre ich
wohl dort geblieben.
SZ: Was hätten Sie denn dort gemacht? Als Gärtner gearbeitet?
Chomsky: Wahrscheinlich hätte ich mit jedem gestritten. Mir hat es da
sehr gefallen, aber ich war bei verschiedenen Sachen deutlich anderer
Meinung. Es handelte sich um ein sehr linksgerichtetes Kibbuz,
eigentlich das Zentrum der Arbeit mit Arabern, aber es war auch
super- stalinistisch. Und ich war von klein auf antibolschewistisch.
SZ: Wie sind Sie dann zur Linguistik gekommen?
Chomsky: Das College langweilte mich so fürchterlich, dass ich mit 16
praktisch aufhörte. Durch politische Kontakte lernte ich Zellig
Harris kennen, der in diesen bi-nationalen zionistischen Gruppen
mitarbeitete. Er war, wie ich erfuhr, der Leiter der
Linguistikabteilung meiner Hochschule. Ich habe aber keinerlei
akademischen Qualifikationen, ich besitze kein Diplom oder einen
richtigen Abschluss.
SZ: Aber Sie sind doch Professor?
Chomsky: Am MIT, denen war das wurscht. An einer richtigen
Universität hätte ich nie Professor werden können, weil mir die
formalen Voraussetzungen fehlen.
SZ: Wenn Sie sagen, Sie waren ein Anti- Bolschewik, waren Sie dann
Trotzkist?
Chomsky: Nein, auch kein Trotzkist. Als ich zwölf war, hatte ich all
diese Phasen durch.
SZ: Schon mit zwölf?
Chomsky: Ja, und ich wurde dann ein Art linker Anarchist.
SZ: Hier im Regal stehen Bücher von Rosa Luxemburg.
Chomsky: Das müssen noch die Bücher sein, die ich mir vor 60 Jahren
in New York gekauft habe. Vor der bolschewistischen Revolution in
Russland gab es eine Strömung im Marxismus, die anti-bolschewistisch
war - Rosa Luxemburg, Liebknecht, Anton Pannekoek -, sie stehen alle
hier.
SZ: Haben Sie dafür auch Deutsch gelernt?
Chomsky: Nur ganz wenig.
SZ: In einer Fußnote der "Generativen Textgrammatik" zitieren Sie
Wilhelm von Humboldt. Es geht darum, wie sich mit Hilfe
internalisierter Regeln neue Sätze bilden oder "generieren" lassen.
Sie führen das "Generieren" auf den Begriff "erzeugen" bei Humboldt
zurück.
Chomsky: Ich weiß nicht, ob Sie je Humboldt gelesen haben, er ist ein
sehr schwieriger Schriftsteller. Selbst Muttersprachler rätseln, was
in diesen dunklen Sätzen ausgesagt ist. Ich habe Humboldt mit Hilfe
eines Freundes aus Deutschland gelesen - Hans Viertel. Sein Bruder
wurde ein bekannter Drehbuchautor...
SZ: Peter Viertel, der "African Queen" mit Humphrey Bogart und
Katharine Hepburn geschrieben hat.
Chomsky: Hans hatte mit Brecht und Fritz Lang gearbeitet, bei
"Hangmen Also Die". Wir gaben uns große Mühe, Humboldt zu verstehen.
Wir entdeckten eine Stelle, an der er überlegt, wie Sprache entsteht.
Es war kein neuer Gedanke, er zieht sich durch die ganze Aufklärung
und die Romantik und geht wahrscheinlich auf die Philosophie von
Descartes zurück. Es steht doch alles schon bei den Klassikern, sie
werden nur nicht gelesen.
SZ: Nur gelehrt.
Chomsky: Oder anthologisiert. Sie müssen zum Text zurückgehen und
sich anschauen, was und wie im 18. Jahrhundert gedacht wurde - das
ist zufällig mein Lieblingsjahrhundert -, und seitdem ging es
natürlich nur bergab.
SZ: Kein Einspruch, Euer Ehren.
Chomsky: Humboldt sagt es sehr poetisch: Wenn man ein schönes Objekt
sieht, das jemand unter Zwang und in Lohnarbeit angefertigt hat, dann
können wir zwar bewundern, was dieser Mensch geleistet hat, werden
aber das verachten, was er ist. Humboldt spricht da von
fremdbestimmter Arbeit im Unterschied zum eigenen kreativen Wollen.
SZ: Das ist ja reiner Marxismus.
Chomsky: Nein, es verhält sich genau umgekehrt: Marx hat von der
romantischen Tradition gelernt. Das ist das Milieu, in dem er
aufgewachsen ist. Die Romantiker entwickelten eine kritische Lesart
der Aufklärung, und so fand sie Eingang in den frühen Marx.
SZ: Aber jetzt was anderes: Ist es nicht so, dass das MIT vom Militär
mitfinanziert wird?
Chomsky: Wieso nur mitfinanziert? In den 60er Jahren, als ich gegen
Vietnam protestierte, habe ich in einer Abteilung gearbeitet, die zu
100 Prozent vom Militär finanziert wurde. Lustigerweise war es damals
eine viel offenere und liberale Einrichtung als heute, wo die großen
Firmen Einzug gehalten haben. Der Grund ist einfach: Das Pentagon
begreift, was die meisten Wirtschaftsleute nicht zu verstehen
scheinen, nämlich dass die Wirtschaft auf einem sehr dynamischen
Staatssektor basiert, der gefördert werden muss. Und diese Förderung
kam im wesentlichen vom Militär. Die gesamte moderne Wirtschaft, die
so genannte new economy - Computer, Internet, Telekommunikation,
Automatisierung, Laser -, entstand im Staatssektor und kam zumeist
aus dem militärischen Bereich.
SZ: Sollten Ihre Forschungen nicht auch militärisch genutzt werden?
Chomsky: Dafür waren sie viel zu abstrakt. Das Militär hat meine
Arbeit finanziert, aber das Ergebnis war denen egal.
SZ: Aber sollten nicht die Grundregeln Ihrer generativen Grammatik
jedem Soldaten in den Rucksack gepackt werden für den Fall, dass er
im fremdsprachigen Ausland abgeschossen wurde?
Chomsky: Das sagen die Leute, aber im Ernst dachte niemand daran. Ich
habe es schon gesagt: Die Militärs finanzieren Forschung und
Entwicklung, weil sie annehmen, dass es sich früher oder später
auszahlen wird. Aber die eigentliche Arbeit hat sie nicht
interessiert.
SZ: Und diese Militärs wollten Sie nie rausschmeißen, als Sie gegen
den Vietnamkrieg protestierten?
Chomsky: Vielleicht haben sie es erwogen, aber ich habe nie etwas
davon erfahren. Und ich war umstritten, ich habe Aktionen gegen den
Krieg organisiert, ich war mehrfach im Gefängnis, aber für eine
Entlassung gab es kein Anzeichen.