Das nun eine besonders perfide Version der Kritik der Seuchenpräventionsmassnahmen. Besonders perfide, weil die Beschreibungen der Auswirkungen von Armut ja voll und ganz zutreffen und man den diesbezüglichen Vorwürfen des Autors gänzlich zustimmen muss. Ja, eigentlich ist es noch schlimmer. Nicht nur tut die Politik nichts dagegen, sie hat im Gegenteil in den letzten Jahrzehnten aktiv die Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen Armutsbevölkerung geschaffen. Bekanntlich hat sich Schröder als Bundeskanzler stolz gezeigt, den grössten Niedriglohnsektor Europas geschaffen zu haben.
In Phasen deregulierten Kapitalismus ist die Zunahme der Armut völlig normal. Wer Neoliberale wählt, stimmt dem zu. Und selbstverständlich gilt das auf globalem Niveau noch viel mehr. Ganze Weltregionen werden klein gehalten, korrupte Eliten, die lokale Sucker-Klasse, werden gefördert, nicht zuletzt durch das Zuschanzen gutbezahlter (Bullshit-)Jobs in internationalen Institutionen. Jede Regierung bekommt Zückerchen, solange sie sich nicht gegen das westliche Imperium stellt. Gleichzeitig wird mit leoninischen Verträgen dafür gesorgt, dass authochtone Wirtschaftsentwicklung möglichst behindert wird. Man profitiert von status quo und also wird dieser mit allen Mitteln verteidigt.
Eine Seuche kommt niemals gelegen. Im Gegensatz zu dem, was der Autor Klassismus nennt, führt sie nicht tröpfchenweise aber stetig, sondern erratisch zu statistisch sichtbarer Übersterblichkeit und löst daher gesellschaftliche Unruhe aus. Man kann nicht auf sie nicht reagieren. Macht man als Regierung bei der politischen Reaktion grobe Fehler, kann das leicht zum Sturz führen. Das ist der fundamentale Unterschied. Wegen der kürzeren Lebenserwartung aufgrund von Armut droht keine Übersaturierung des Gesundheitswesens. Eine Seuche gleicht einem schweren Unglück, Armut eher den Folgen von Substanzmissbrauch. Das eine führt unabweisbar zu einer Notsituation, das andere erscheint als gesellschaftlich relativ unauffälliges individuelles Schicksal.
Die Notmassnahmen gegen eine Seuche haben unerwünschte Nebenwirkungen, die so weit gehen können, dass sie die direkten Auswirkungen der Seuche selbst übertreffen. Die Reaktion auf die Covid-Epidemie fördert etwa die Armut. Wäre man gut vorbereitet gewesen, hätte man das zwar nicht verhindern, aber doch minimieren können. Warum aber, sagt sich der Neoliberale, soll man sich auf etwas vorbereiten, was wahrscheinlich nie eintritt? Lean Management bedeutet u. a. alle Fettreserven abzuschmelzen, alles auf das eine Ziel auszurichten - Profit zu machen. Neoliberalismus ist eine Schönwetter-Strategie, die dann, wenn Unvorhergesehenes geschieht, wie etwa das Auftreten einer Seuche, besonders gründlich versagt. Derzeit besonders gut festzustellen an der Unfähigkeit, oder auch Weigerung, die globale Distribution der Vakzine sicherzustellen.
Da liegt der Zusammenhang. Ein gegeinander Ausspielen, wie es Rheinländer hier tut, ist kontraproduktiv und hilft auch den Armutsbetroffenen nicht. Kann sein, dass im Buch, aus dem dieser Text stammt, über die hier dargelegte Phänomenologie hinaus, die eigentlichen Ursachen der zunehmenden Misere genannt werden. Das ist immerhin zu hoffen.