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  • yossarian

mehr als 1000 Beiträge seit 20.06.2000

Falsch, Herr Baumann

"Die moralische Verabsolutierung ist insofern bedenklich, da man
nicht vergessen sollte, dass viele der wichtigsten Grundrechte in der
deutschen Verfassung, die natürlich auf bestimmte Grundwerte
zurückgehen, in erster Linie Minderheitenrechte sind, d.h.
Schutzrechte der Minderheiten gegen potenzielle Diskriminierungen
durch die Mehrheit."

1. Die BRD hat keine Verfassung, sondern das Grundgesetz. Das GG ist
nach Eigenaussage keine Verfassung. Es ist ja nachgerade peinlich,
wenn man das einem Politikwissenschaftler erklären muß.

2. Es gibt im Grundgesetz kein Grundrecht, das eine Minderheit
gegenüber einer Mehrheit schützt. Es gibt allerhöchstens Grundrechte,
die das Individuum gegenüber dem Staat schützen und über die
"mittelbare Drittwirkung " auch das Individuum gegenüber anderen
Indidividuen. Letzteres ist gesetzlich jedoch nicht fixiert, die
"mittelbare Drittwirkung" ist eine Interpretation des BVerfG seit dem
Lüth-Urteil von 1958. Aber auch der staatliche Schutz des Individuums
A vor anderen Individuen ist nur dann gültig, wenn sich A besonders
staatsbürgerlich korrekt verhält. Das alles kann man im Lüth-Urteil
nachlesen und das Lüth Urteil sollte eigentlich jeder
Politikwissenschaftler kennen.

3. Auch individuelle Schutzrechte sind übrigens im Grundgesetz sehr
selten, mir fällt konkret nur das Recht auf Eigentum und Erbe ein.
Die meisten Grundrechte schützen den Staat vor dem Individuum, nicht
umgekehrt: So wird im GG z.B. der Lehrer auf Staatstreue
verpflichtet, mit der Staatsraison wird die innerstaatliche
Freizügigkeit faktisch aufgehoben (ein Recht auf Auswanderung
existiert erst gar nicht), das Grundgesetz erlaubt Zensur der
öffentlichen und Überwachung der individuellen Kommunikationen, es
schränkt explizit die individuelle freie Verpaarung ein, zugunsten
einer staatlich präferierten Verpaarungsform, nämlich Ehe und
Familie, es beschränkt massiv die die Versammlungsfreiheit (nur unter
freiem Himmel, nur ohne Waffen). Usw. usw.

4.) Das einzige Minderheitenrecht ist - wenn auch durch die
Staatsräison massiv beschnitten - das Recht auf Religionsunterricht
an öffentlichen Schulen, auf das sich auch Minderheiten berufen
können. Aber nur dann, wenn sie staatlich anerkannt sind und sich
somit einer massiven Staatskontrolle unterwerfen (staatliche
Finanzierung, staatliche Rechtsform, Akzeptanz der Führungsrolle des
Staates).

5.) 8, 9, 11, 12, Staatsrechtsvorlesung für Dummys: Die
Grundrechtsartikel 8, 9, 11, 12 sind reine Deutschenrechte, sie
gelten also auch in ihrer sehr beschränkten Form nur für Deutsche,
nicht aber für Ausländer (mögliche Form der Minderheit):
Versammlungsfreiheit, Vereinsfreiheit, interne Freizügigkeit,
Berufsfreiheit gibt es nur für Deutsche. Hier werden ausländische
Individuen sogar explizit NICHT geschützt. Kein Türke hat das Recht,
einen Verein zu gründen. Vereinsgründungen durch Türken werden
derzeit geduldet, ein Rechtsanspruch besteht NICHT.

Bottom line: Das Grundgesetz ist keine Verfassung und es schützt auch
keine Minderheiten, sondern wenn überhaupt Individuen vor dem Staat
und auch diese nur sehr halbherzig. Dominant schützt es den Staat vor
dem Individuum und damit auch vor Kollektven bestehend aus Individuen
(z.B. Minderheiten).

mfG, yossarian (Minderheitenrechte sind sowieso Kokolores: Ansonsten
könnte man ja auch für die im Freundeskreis gegründete Terrorzelle
e.V. Separatrechte einfordern. Es gibt allerdings sehr spezielle
Fälle, in denen der Staat Minderheitenrechte akzeptiert und sogar
ausländisches Recht auf seinem Staatsgebiet toleriert: Dies betrifft
v.a. Zivilstandsangelegenheiten. Deutschland erkennt
selbstverständlich saudi-arabische Ehen an, auch wenn diese nach
deutschem Recht völlig illegal geschlossen wurden. Dies dient nicht
zuletzt dem Schutz der deutschen Staatsbürger im Ausland: Denn auch
Saudi-Arabien erkennt deutsche Ehen an, auch wenn diese nach
saudischem Recht völlig illegal sind. Und so kann es kommen, daß
deutsche Richter bei Scheidungen die Scharia anwenden. Das müssen sie
tun, weil die bilateralen Verträge zwischen Dland und Saudiland es so
vorsehen. Wer mal ein wirklich interessantes juristisches
Betätigungsfeld sucht, der sollte sich mit Zivilstandsangelegenheiten
im binationalen oder internationalen Kontext befassen. Da kann man
lernen, wie relativ das Recht ist.)
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