Die Frage, die sich mir beim Lesen des Taglinger-Artikels ergab, lautet: Was ist »gesund« und daraus folgend, was ist der »gesunde Menschenverstand«?
Bei sichtbar körperlichen Erkrankungen fällt es leicht, von krank oder gesund zu sprechen: Man hat eine Grippe, fühlt sich nicht wohl und weiß, daß man krank ist. Man geht darauf zum Arzt, der bestätigt die Erkrankung und schreibt den Patienten krank. So weit so gut.
Im Falle der sogenannten angeblichen Geisteskrankheiten streiten sich die Geister, denn häufig wird schon nonkonformistisches Verhalten als krank bezeichnet: Wer sich nicht ausreichend an die kranke Gesellschaft, in der wir nunmal leben, anpaßt, läuft bei allzu auffälligem und vor allem störendem Verhalten Gefahr, in die Fänge der Psychiatrie zu geraten. Schon Erich Fromm hat gesagt:
Die Normalsten sind die Kränksten, und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt, aber es ist mir ganz ernst damit, es ist nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, der zeigt, daß bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, daß sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und daß sie durch diese Friktion Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, daß etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat. Wie glücklich der, der einen Schmerz hat, wenn ihm etwas fehlt. Wir wissen ja: Wenn der Mensch keine Schmerzen empfinden würde, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage. Aber sehr viele Menschen, da sie normal sind, sind so angepaßt. Die haben so alles, was ihr Eigen ist, verlassen. Die sind so entfremdet, so Instrument, so robothaft geworden, daß sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden. Das heißt, ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Haß, das ist schon so verdrängt oder sogar so verkümmert, daß sie das Bild einer chronischen leichten Schizophrenie bilden.
... daß der Mensch, wie das Marx auch gesagt hat, seine Geschichte macht. Die Geschichte tut gar nichts. Sie kämpft keine Kämpfe und sie gewinnt keine Schlachten. Es ist der Mensch, der alles tut. Dieser Mensch aber wird beeinflußt von seiner Umgebung, und zwar nicht nur im Sinne der französischen Aufklärungsphilosophie, der Umgebung oberflächlich gesehen, sondern der Struktur der Gesellschaft, in der er lebt, die eine Tendenz hat, nämlich seine psychischen Energien so zu gestalten, daß der Mensch das gerne tut, was er tun muß, damit diese Gesellschaft in ihrer speziellen Form existieren kann.
https://www.youtube.com/watch?v=JayPmA9pFfY
Wie ich Fromm hier interpretiere: In allen modernen Zivlisationen (aber auch schon in der Antike) werden die Menschen bereits im Säuglings- und Kleinkindalter darauf abgerichtet, später ein funktionierendes Objekt im gesellschaftlichen Getriebe zu sein. Wie das in etwa vor sich geht, habe ich heute morgen bereits dort ausgeführt.
Woraus sich die weltweit verbreitete Institution der Psychiatrie entwickelt hat –, die ja nicht nur tatsächlich hilf- und orientierungslose Menschen behandelt, sondern ebenso Außenseiter, Eigenbrötler, Eigensinnige, Nonkonformisten, sollten sie den Fehler begehen, mit ihrer individuellen, von der Norm abweichenden Einzigartigkeit allzu sehr aufzufallen und damit das Funktionieren der Gesellschaft zu sehr zu stören –, hat Thomas Stephen Szasz in seinen Werken dokumentiert: irwish.de/Site/Biblio/Szasz.html
Schon damals hat man störende Elemente als das bezeichnet, was nachweisbar als Vorläufer der heutigen psychiatrischen Störungen gilt: Soziale Störenfriede, die dadurch auffielen, daß sie nicht den Dogmen der Katholischen Kirche folgten, wurden als vom Teufel besessen, als Hexen, Zauberer oder sonstige Dämonenanhänger bezichtigt. Man hat die Menschen gefoltert, wie das noch heute in den Psychiatrien geschieht, natürlich alles nur »zu ihrem Besten« und am Ende umgebracht, und zwar auf eine sehr schmerzhafte Weise, indem man sie auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leib zu Asche verbrannte.
An das Märchen vom angeblich gesunden Menschenverstand scheinen noch immer die allermeisten Menschen zu glauben, denn kaum jemand würde sich selbst gerne als psychisch gestört sehen wollen, ganz unabhängig davon, wie seine Realitätskonzepte tatsächlich beschaffen sind, also wie er Realität konzeptualisiert (davon, daß sie das tun, wissen die meisten so gut wir gar nichts). Ganz im Gegenteil halten sich die meisten Menschen für gesitig gesund, wobei sie sich danach richten, was in der jeweiligen Gesellschaft als gesund gilt, wie der Begriff der geistigen Gesundheit in der Gesellschaft definiert ist. Wenn also vom gesunden Menschenverstand die Rede ist, scheint jeder sofort zu verstehen, was gemeint ist: »Ein Verstand, wie ich ihn habe, denn ich bin ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft. Wäre ich geistig gestört, wäre ich ja nicht anerkannt, ergo muß ich geistig gesund sein.« Bei Konflikten mit anderen Menschen, vor allem in Paarbeziehungen, wird daher auch nur äußerst selten die eigene geistige Gesundheit in Frage gestellt, die des jeweiligen Gegners dagegen auffallend häufig.
Im Grunde hat der Mensch jedoch gar nicht so unrecht mit seiner Annahme eines gesunden Menschenverstandes, denn in der Tat stellen die als geistige Störungen bekannten Symptome nichts anderes dar als natürliche Möglichkeiten des menschlichen Gehirns, zum Beispiel auf bedrückende Situationen mit Bedrückung zu reagieren – sonst wären es ja keine bedrückenden Situationen, wenn sie nicht Bedrückung auslösen würden. Die Psychiatrie hat aber aus der Bedrückung die Depression gemacht, obwohl eigentlich jedem Laien klar sein müßte, daß langanhaltende Bedrückungssituationen eben auch langanhaltende Bedrückung bei den Betroffenen zur Folge haben müssen. Wenn Sie in Ihrer Lebensplanung und -ausführung ständig frustriert werden, geben Sie es irgendwann auf, von Ihren Handlungen die erwünschten Resultate zu erwarten. Sie glauben dann irgendwann felsenfest daran, daß Sie erst gar nicht fähig wären, eigenständig Veränderungen und Verbesserungen ihres Lebens herbeizuführen, weil Ihnen das in der Vergangenheit nur sehr selten oder noch nie gelungen ist. Sehr aufschlußreich dazu ist die Studie von Martin E. P. Seligman über Erlernte Hilflosigkeit:
Das Verhalten hilfloser Hunde ist typisch für das Verhalten vieler anderer Tierarten, wenn sie mit Unkontrollierbarkeit konfrontiert werden. Folgendes Standardverfahren wandten wir an, um gelernte Hilflosigkeit bei Hunden hervorzurufen und nachzuweisen: Am ersten Tag wurde das Versuchstier im Pavlovschen Geschirr fixiert und erhielt 64 elektrische Schocks von jeweils fünf Sekunden Dauer und einer Intensität von 6.0 Milliampère (mäßig schmerzhaft). Diesen Schocks ging keinerlei Signal voraus, und sie waren zufällig über die Zeit verteilt. 24 Stunden später wurde das Versuchstier zehn Durchgänge lang einem Flucht-Vermeidungstraining mit Warnreiz in einer shuttle box, einem Versuchskäfig mit zwei Abteilen und elektrisch aufladbarem Boden, unterworfen: der Hund mußte über die Trennwand von einem Käfigabteil ins andere springen, um dem Schock zu entfliehen oder ihn zu vermeiden. Elektrische Schläge konnten in beiden Käfigabteilen verabreicht werden, so daß es keinen Ort gab, an dem das Tier immer sicher gewesen wäre, während die Reaktion des Hinüberwechselns oder Springens immer zu Sicherheit führte. Jeder Durchgang begann mit dem Einsatz des Warnreizes (Verringerung der Lichtintensität), und dieses Signal blieb bis zum Ende des Durchgangs bestehen. Zwischen dem Einsatz des Warnreizes und dem elektrischen Schlag lag ein Intervall von zehn Sekunden; sprang der Hund innerhalb dieses Intervalles über die schulterhohe Trennwand, so endete das Signal und der Schock blieb aus. Gelang es dem Tier nicht, innerhalb des Signal-Schock-Intervalles zu springen, so bekam es einen elektrischen Schlag von 4.5 Milliampère, der anhielt, bis der Hund über die Barriere sprang. Schaffte es der Hund nicht, innerhalb von 60 Sekunden nach Einsatz des Signals über die Barriere zu springen, so wurde der Durchgang automatisch abgebrochen.
irwish.de/pdf/Seligman-Hilflosigkeit.pdf
Die aus dieser Studien hervorgegangenen sozialpsychologischen Erkenntnisse flossen letztendlich in die systematische Massenmanipulation ein. Heute sind modern(d)e Gesellschaften so struktruriert, daß der durchschnittliche Bürger kaum noch eine Chance hat, sich den gesellschaftlichen Zwängen zu entziehen, sich nicht zum Instrument und damit zum Objekt machen zu lassen und sich dagegen autonom und eigensinnig entwickeln zu können. Der moderne Industrielandbewohner wird heute systematisch auf vielfältige Weise und in zahlreichen Bereichen nachhaltig entmutigt. Daraus entwickelt sich nicht nur die weitverbreitete Politikverdrossenheit, sondern auch die abnehmende Fähigkeit, an sich selbst, an die eigene Kraft und Bewältigungsfähigkeit zu glauben.
Die Hilflosigkeitstheorie spiegelt sicherlich auch den Zeitgeist wider. Zwar scheinen Unkontrollierbarkeit, Nichtplanbares und Unverhofftes nicht in eine hochtechnisierte Welt zu passen; trotzdem findet man heute immer häufiger Erscheinungsformen der Macht-, Hilf- oder Hoffnungslosigkeit. Zur Erklärung dieser Zustände zieht die Psychologie u.a. Variablen aus den Bereichen »Handlungskontrolle« und »Selbstkonzept« heran und setzt ihnen Variablen aus der Vertrauensforschung entgegen (vgl. Petermann, 1992). Der vielleicht umfassendste Versuch, kognitive Variablen und Aspekte von Hilflosigkeit zu verbinden, stammt von Martin Seligman und seinen Mitarbeitern. Erlernte Hilflosigkeit war bislang Gegenstand einiger hundert psychologischer Untersuchungen, vor allem im anglo-amerikanischen und ansatzweise im deutschsprachigen Raum. Das Konzept der erlernten Hilflosigkeit wurde auf viele Bereiche übertragen, von denen Tabelle 9.1 eine Auswahl darstellt. Vor diesem Hintergrund erscheint das Konzept der erlernten Hilflosigkeit als ein allgemeines, überall anwendbares Modell zur Beschreibung der Herausbildung psychischer Fehlentwicklungen und des Bewältigungsprozesses in kritischen Lebensphasen (Lebenssituationen). Anscheinend sind die Symptome psychischer Fehlentwicklungen bzw. die Bewältigungsprozesse in kritischen Lebensphasen so ähnlich, daß die große Vielzahl der untersuchten Erscheinungsformen durch das Modell der erlernten Hilflosigkeit abgedeckt werden kann.
(a.a.O, Kapitel 9, Neue Konzepte und Anwendungen)
Insofern erscheint es mir fast schon anmaßend, zumindest aber unangebracht, heute noch von dem veralteten Konzept des gesunden Menschenverstandes sprechen zu wollen.
Noch ein Wort zum Begriff des Gestörtseins
Häufig bezeichnet jemand, der sich durch einen anderen Menschen in welcher Weise auch immer gestört fühlt, diesen Anderen als gestörten Menschen: »Der muß wohl geisteskrank sein, da er es wagt, mich mit seinen unkonventionellen Ideen oder Verhaltensweisen zu belästigen.« Selbstverständlich existieren Menschen, die derart hilf- und orientierungslos geworden sind, daß sie alleine nicht mehr zurechtkommen. Vielleicht kommen sie aber auch genau deswegen, weil man sie in ihrer Not alleine gelassen hat, nicht mehr zurecht. Tatsächlich fühlt sich in der oben angedeuteten Situation nicht der Störenfried gestört, sondern der, der sich darüber empört. Er kann nicht mit dieser ungewohnten, ganz anderen Wirklichkeitskonzeption umgehen, die z.B. ein sogenannter Schizophrener zum Ausdruck bringt. Der Schizophrene dagegen hat, einst vor die Wahl gestellt, sich selbst oder die Welt aufzugeben, sich für das Weiterbestehen seines eigentlichen Selbst entschieden, auch wenn er dabei »verrückt« wurde. Der Normale hat dagegen weite Teile seines Selbst aufgegeben, um im Sinne des gesellschaftlichen Funktionierens nunmehr ein Schattendasein zu führen, als Werkzeug, Instrument und somit als Objekt zu dienen und sich damit immer weiter von seinem Eigentlichen, vom Eigenen zu entfernen.
Aus dieser Perspektive betrachtet ist es nicht weiter verwunderlich, daß viele Menschen – vor allem wenn sie technische Berufe ergriffen haben, worunter im weiteren Sinne auch Büroarbeit bzw. Verwaltungstechnik einzuordnen sind – eine Vergleichbarkeit seiner gefühlsbefreiten Denkstrukturen mit der Arbeitsweise von Computern herstellt. Menschen, die ein reiches emotionales Innenleben aufweisen, kämen niemals auf einen solchen, aus meiner Sicht völlig absurden Gedanken. Ist man jedoch daran gewöhnt, mit dem, was man als seinen Verstand betrachtet, die Welt ohne nennenswerte Gefühlsbeteiligung zu kartographieren, ist es voll und ganz nachvollziehbar, wie der entfremdete Mensch auf den Gedanken kommt, es könnte so etwas wie eine künstliche Intelligenz geben. Ein Entfremdeter weist ja schon per Definition selbst eine Art künstlicher Intelligenz auf, gerade weil er weitgehend ohne Gefühlsbeteiligung denkt, Gefühle häufig sogar als bedrohlich und störend erlebt und sich nicht selten als minderwertig vorkommt, wenn ihm seine Gefühle einen Strich durch die Rechnung machen. Aus dieser Erkenntnis heraus ist dann auch das Intellgenzkonzept des entfremdeten Menschen zu verstehen, so daß es kein Wunder ist, daß er vermeint, sein Gehirn sei nichts weiter als ein biochemisch-elektrischer Computer, den er mit elektronischen Bauteilen einfach nachbauen könnte.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (17.10.2018 13:51).