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  • Zetscho

mehr als 1000 Beiträge seit 03.02.2004

Deutsche Version der Straussianer?

Ich habe gestern die wirklich großartige BBC-Reportage "The Power of
Nightmares" gesehen. Da ging es um die Geschichte des
Neokonservativismus und des radikalen Islamismus im Vergleich. Die
Neokons begründen ihre Ideologie ja bekanntlich auf Leo Strauss.
Dieser sah zu seinen Leb- und Wirkzeiten (kurz nach WK2) die
amerikanische Gesellschaft von einem inneren Verfall bedroht und
zwar, weil angeblich das liberale System die "shared values", die
eine Gesellschaft zusammenhalten sollen, zerstören und die Menschen
zu selbstsüchtigen, egoistischen Individuen machen soll. Die Lösung
sah Strauss darin, dass man ein gemeinsames Leitziel bräuchte, und
sei es nur eine Fiktion, das Amerika wieder vereint und den Menschen
einen gemeinsamen Sinn gäbe. Dabei sei es egal, ob dieses einende
Ziel real sei oder erfunden, Hauptsache, es stabilisiere und vereine
die amerikanische Gesellschaft. So wurden die USA zum rein "Guten"
(pure good) hochstilisiert, das gegen das rein "Böse" (pure evil) in
der Welt kämpfen müsse - zu der Zeit war das natürlich die
Sowjetunion. Anfangs hatten es die Neokons schwer, politisch Fuß zu
fassen. Das änderte sich spätestens unter Reagan, der von diesen
Ideen begeistert war und da die Neokons inzwischen eine zweite
einende Fiktion gefunden hatten: die Religion. Reagans erster
Wahlsieg basierte vor allem auf die vielen "religious right", die
dort zum ersten Mal überhaupt wählen gegangen waren. Die Neokons
hatten nämlich viele dieser fanatischen Prediger, von denen es in den
USA ja nicht wenige gibt, für sich gewinnen können (kein Wunder
eigentlich, denn Christen-Fundis sehen die Welt ja überall vom Teufel
bedroht, der die Seelen der Menschen verführt durch liberale Werte
wie sexuelle Befreiung etc.). Das entscheidende bei den Straussianern
ist also, dass sie es für nötig halten, eine Fiktion (die sie selbst
nicht einmal unbedingt glauben) zum politischen Instrument zu machen,
um eine Gesellschaft vor dem "Verfall" zu bewahren.

Das ist doch eigentlich genau das gleiche wie das, was Stoiber,
Merkel und deren Gesinnungsgenossen hier versuchen. Sie versuchen,
wenn auch noch zaghaft, eine Fiktion zu kreieren, um die "deutsche
Gesellschaft" zu einen.

O-Ton Merkel:

"Die Menschen fragen danach, was uns verbindet, was diese
Gesellschaft zusammen hält, welche Ziele sie hat."

"Wir brauchen gemeinsame Wertüberzeugungen, wenn wir die
Veränderungen in Deutschland erfolgreich gestalten wollen."

Das ist aber eine Fiktion, solche Werte gibt es nicht, jedenfalls
kann man sie nicht in einem politischen Program manifestieren ohne
das andere ausgegrenzt werden. Außerdem ist ein Patriotismus, der
"sich nicht gegen ausländische Mitbürger" richtet, sondern "vielmehr
Orientierung für Ausländer" bietet, "die sich integrieren wollen",
eine Fiktion. So einen Patriotismus gibt es nicht. Patriotismus ist
entweder das, was zu den beiden Weltkriegen geführt hat oder er ist
gar nicht. Patriotismus ist nur eine wohlwollende Umschreibung von
Nationalismus:

"Grundlage des Nationalismus ist die Vorstellung, dass die
Verschiedenheit zwischen Gruppen von Menschen nicht nur gegeben,
sondern auch erhaltenswert ist." (wikipedia)

Wie soll nun also ein Patriotismus "Orientierung für Ausländer"
bieten, "die sich integrieren wollen"? Das ist ein eklatanter
Widerspruch in sich. Abgesehen davon, was IST "Integration" von
Ausländern eigentlich? Ich halte das genauso für eine politisch
intrumentalisierte Fiktion wie der "Patriotsmus light". In einer
multikulturellen Gesellschaft (und wir sind eine, ob's gefällt oder
nicht) bedeutet "Integration" lediglich, dass verschiedene Kulturen
miteinander leben. Fertig, aus! Und das funktioniert bis auf wenige
Ausnahmen seit Jahrzehnten in Deutschland wunderbar. Wenn jetzt
plötzlich "Integration" und "Leitkultur" gerufen wird, bewirkt das
nichts anderes als das Gegenteil, denn dahinter steckt nur plumper
Nationalismus, dessen Grundlage die Vorstellung ist, "dass die
Verschiedenheit zwischen Gruppen von Menschen nicht nur gegeben,
sondern auch erhaltenswert ist." Wer also von Ausländern oder sagen
wir besser anderen inländischen Kulturen, die sich von der
Mehrheitskultur unterscheiden, "Bereitschaft zu Integration" fordert,
tut im Grunde nichts anderes, als diese auszugrenzen, sie zu
de-integrieren.

Warum bedienen sich also Politker solchen schädlichen und stumpfen
Fiktionen und machen sie zum Politikum, zu dem sie eigentlich nicht
geeignet sind? Entweder sie haben kein politisches Program und wollen
nur Aufmerksamkeit und Wählerstimmen, das trifft z.T. sicherlich auch
auf die CDU/CSU zu, im wesentlichen aber auf die rechtsextremen
Parteien. Oder aber sie wollen von etwas ablenken, z.B. vom
eigentlichen politischen Program und dessen Folgen. Wieso? Ganz
einfach: Das politische Programm fast aller Parteien scheint es
derzeit zu sein, einen sozialen Umverteilungskampf von unten nach
oben zu führen (das mag verschiedene Ursachen haben, aber das ist ein
anderes Thema) und dieser Kampf zeigt langsam gesellschaftlich
Wirkung: Immer größere Armut, immer mehr Arbeitslose, immer weniger
Geld für Bildung und Soziales, etc. Eine klare Folge davon ist die
sog. Gettoisierung der Gesellschaft: Reiche leben abgeschottet, Arme
ebenso und der schrumpfende Mittelstand bibbert vor Angst. Die
deutsche Gesellschaft ist in einem Verfall begriffen, genauso wie es
die amerikanische seit Ende der 60er ist. Allerdings handelt es sich
nicht, wie Leo Strauss glaubte, um einen Werteverfall aufgrund eines
liberalen Systems, nein, es handelt sich schlichtweg um einen
sozialen Verfall als Folge des bedingungslosen Kapitalismus. Und
genau so wie Strauss glaubte, diesen Verfall mit der Erfindung
fiktiver Leitwerte ("pure good against pure evil") aufhalten zu
können, glauben das offensichtlich auch die Politiker und Anhänger
der rechtslastigen CDU/CSU ("Integration, Leitkultur, Patriotismus").
Und sie haben beide noch was gemeinsam: Beide erkennen nicht die
wirkliche Ursache des Verfalls. Nicht der radikale Islamismus,
muslimische Parallelgeselschaften oder der Einzug der NPD ins
Parlament sind das Problem, sondern diese sind das Symptom. Die
Urache liegt in der wachsenden Armut in Deutschland, in der
wachsenden sozialen Kälte (Muslime haben immerhin noch
Familienstrukturen auf die sie sich rückbeziehen können, Deutsche nur
noch selten), die wiederrum ihre Ursache in einer völlig verfehlten,
konzern- und finanzorientierten Wirtschafts-, Steuer- und
Sozialpolitik haben (und das schon seit Kohl).

Aber das Hauptproblem bei dem Ganzen ist und bleibt die Dummheit,
Naivität und Obrigkeitshörigkeit des deutschen Michels und der
deutschen Micheline, die auf diesen stumpfen Nationalzug aufspringen
werden und ggf. ein drittes Mal mit einem "Hurrah!" auf den Lippen
untergehen werden. Auf diese Dummheit ist Verlaß, das wissen auch
diese Politiker und nutzen das voll aus.

Aber, was soll's, solange die BILD das Blatt mit der stärksten
Auflage weltweit bleibt, haben wir's gar nicht anders verdient.

Gruß, Z.

PS: Diese Reprotage ist nur zu empfehlen! Wer sie sehen möchte,
biddeschön, Esel anwerfen und diese Links anklicken (dreiteilig):

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