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  • martinbe

mehr als 1000 Beiträge seit 07.12.2001

Ressentiment und Verschwörung

TimTomita schrieb am 9. Dezember 2004 0:22

> Na zumindest wissen wir jetzt Bescheid, welche „Ressentiments“ bei
> Dir gerade „en Vogue“ sind. Die gegen „Funktionseliten“, „eine
> funktional differenzierten Gesellschaft“, „Amerikaner“, „Merkel“ und
> „Pinguine“.

Tut mir leid, dass Du anscheinend mit dieser Terminologie Probleme
hast, aber sie ist nunmal in der Analyse gesellschaftlicher Prozesse
und Strukturen üblich. Darin ein Ressentiment zu entdecken heiß nur,
dass man die Wörter nicht kennt. Pinguine sind herzallerliebste
Tiere, aber eben nicht besonders klug, was man ihnen aber nicht
vorwerfen kann. (Das gilt nicht für Amerikaner oder Merkel.)

Die funktional differenzierte Gesellschaft ist nunmal die heute
vorherrschende Struktur. Solltest Du nicht wissen was das ist, bei
Parsons und anschließend bei Luhmann nachlesen. Dann wird Dir
vielleicht vieles klarer und Du siehst nicht allenthalben das
Ressentiment sein häßliches Haupt erheben.

> Ob dahinter wohl auch eine „Phantasmagorie, die in der Realität Raum
> für jedes Ressentiment bietet“ steckt?

War Dir das zu knapp formuliert? Dann vielleicht zur Ergänzung: In
Amerika herrscht zur Zeit eine paradoxe Situation. Man ist äußert
Patriotisch, ruft Amerika und das Zusammenstehen aller Amerikaner an,
gleichzeitig driftet die amekrikanische Gesellschaft auseinander,
weil die verschiedenen ideologischen Strömungen sich jeweils einen
Mangel an genau diesem Patriotismus vorwerfen. Die allgemeine
Amerikaeuphorie in Amerika dient außerdem schon seit jeher dazu, die
Probleme dieser Gesellschaft zu verdecken. Der latente und akute
Rassismus, die soziale Ungleichheit, die ungerechte Chancenverteilung
u.v.m. Mann nennt so etwas übrigends Kritik, nicht Ressentiment.

> Bin ja nun kein Merkel-Fan. Eher im Gegenteil. Aber die „Grundlage
> der Stabilität der BRD“ beseitigen, will sie sicher nicht.

Ach nein, was sind denn die Folgen der gegenwärtigen Sozial- und
Wirtschaftspolitik, die stark durch die CDU geprägt ist (Bundesrat)?
Zunächst ein Verfall der Parteien, ein Rückgang der Wahlbeteiligung,
damit ein Schwinden der Legitimität des politischen Systems in den
Augen der Bevölkerung. Dazu eine Renaissance radikaler Positionen,
besonders bei Bevölkerungteilen, in denen der politische
Informationsstand niedrig, die Frustration aber hoch ist. Es ist
nicht die Frage, ob die Schröders und Merkels das wollen, sondern ob
es eine Folge ihrer Politik ist, die sie entweder nicht sehen können
oder wollen. Die Feststellung, dass Politiker i.d.R. nicht von den
Leistungskürzungen betroffen sind, die sie beschliessen und
propagieren, wird mittlerweile nicht mal mehr von ihnen selbst
bestritten. In jeder Talkrunde findet sich ein Spitzenpolitiker
gleich welcher Partei, der auf seine priviligierte Stellung hinweist
und sich dafür entschuldigt.

Auch die Tatsache, dass die Einkommen und Vermögen der
Funktionseliten steigen, während die Löhne und Gehälter stagnieren
oder sogar sinken, wird allgemein anerkannt. Selbst amerikanische
Ökonomen plädieren mittlerweile für eine Stärkung der Kaufkraft in
der BRD, damit diese nicht duch einen Exportrückgang in
Schwierigkeiten gerät und so weltwirtschaftliche Irritationen
verursacht. (Quelle ist ein Interview in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung irgendwann letzten Monat.)

> Gott oder wem auch immer sei Dank, gibt’s nicht viele Anhänger
> solcher absurden Verschwörungstheorien. Sonst wär’ die„Grundlage
> der Stabilität der BRD“ wirklich gefährdet.

Wenn man überall nur Verschwörungstheorien sieht, sollte man sich zu
fragen beginnen, ob man nicht selber ... (Außerdem hängt es mir
langsam zum Halse heraus, dass jede Kritik, die man nicht versteht
oder nicht nachvollziehen kann, als Verschwörungstheorie bezeichnet
wird.)

Diese "absurden Verschwörungstheorien" werden von Soziologen und
Politologen intensiv diskutiert. Da Dir dieser Diskurs aber
anscheinend nicht vertraut ist, will ich nicht weiter darauf
herumreiten. Eine Lektüre einschlägiger Arbeiten des Bonner
Politologen Frank Decker zur "Krise des parteidemokratischen
Systems", wie er es nennt, klärt auch hier wieder einiges auf.

Greetings Comrade



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