Ansicht umschalten
Avatar von
  • unbekannter Benutzer

106 Beiträge seit 20.05.2003

ein brilliantes Buch über eine bald (?) folgende Tragödie

Der Untergang des US-Imperiums

von EMMANUEL TODD

taz, vom 15.3.2003  Meinung und Diskussion

Amerika verliert zusehends seine Macht und setzt daher auf einen
demonstrativen Militarismus. Dagegen müssen sich Europäer mit Russen
verbünden und die UNO stärken

Unter Schmerzen finden weltweit Umbrüche bei Bildung und
Bevölkerungsentwicklung statt, und dabei bewegt sich die Welt in
Richtung Stabilität. Die Länder der Dritten Welt sind bei all ihren
ideologischen und religiösen Aufwallungen auf dem Weg zu Entwicklung
und mehr Demokratie. Es gibt keine globale Bedrohung, die ein
besonderes Engagement der Vereinigten Staaten zum Schutz der Freiheit
erfordert. Nur eine einzige Bedrohung schwebt heute über dem
weltweiten Gleichgewicht: Amerika selbst ist von einer den Frieden
schützenden zu einer räuberischen Macht geworden.

Aber die Welt ist heute zu groß, zu bevölkert und zu vielfältig, sie
wird von zu vielen unkontrollierbaren Kräften bewegt. Keine noch so
intelligente Strategie erlaubt es Amerika, seine halbimperiale
Situation in ein Imperium de jure und de facto zu verwandeln. Amerika
ist dafür wirtschaftlich, militärisch und ideologisch zu schwach.
Deshalb löst jeder Schritt, der Amerikas Zugriff auf die Welt
verstärken soll, nur negative Rückwirkungen aus, die seine
strategische Position weiter schwächen.

Was ist in den letzten zehn Jahren geschehen? Zwei sehr reale
Weltreiche standen sich gegenüber. Eines der beiden, das sowjetische,
ist inzwischen zerfallen. Das andere, das amerikanische, stand ebenso
in einem Prozess der Auflösung. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat
jedoch die Illusion erzeugt, dass Amerika zur absoluten Macht gelangt
wäre. Doch für eine stabile weltweite Hegemonie hätten bei den realen
Kräftebeziehungen zwei Bedingungen erfüllt sein müssen:

Erstens hätte Amerika uneingeschränkt die Macht über sein
europäisches und sein japanisches Protektorat behalten müssen, die
beiden Pole, wo mittlerweile reale wirtschaftliche Macht versammelt
ist. Reale Wirtschaft heißt in diesem Zusammenhang, dass produziert
wird und nicht nur konsumiert.

Zweitens müsste die strategische Macht Russlands endgültig
zerschlagen werden: Die ehemalige sowjetische Einflusssphäre müsste
sich vollkommen auflösen, das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens
müsste vorüber sein, so dass nur noch Amerika allein in der Lage
wäre, einen Schlag zu führen, einseitig und ohne das Risiko auch nur
der geringsten Vergeltung von irgendeinem Land auf der Erde.

Weder das eine noch das andere Ziel wurde erreicht. Ungehindert
konnte Europa seinen Weg zu Einheit und Autonomie gehen. Weitgehend
unbemerkt hat Japan seine Fähigkeit bewahrt, allein zu handeln, falls
ihm eines Tages der Sinn danach steht. Russland stabilisiert sich und
beginnt, konfrontiert mit dem theatralischen Neoimperialismus der
Vereinigten Staaten, seinen Militärapparat zu modernisieren.
Ideenreich und wirkungsvoll spielt es wieder mit auf dem
außenpolitischen Schachbrett.

Da Amerika diese wahren Mächte der heutigen Welt nicht kontrollieren
kann, musste es, um wenigstens den Anschein einer Weltmacht zu
wahren, außenpolitisch und militärisch gegenüber unbedeutenden
Staaten aktiv werden: gegen die Achse des Bösen und gegen die
arabische Welt, zwei Sphären, deren Schnittmenge der Irak bildet. Das
militärische Handeln ist nach Intensität und Risiko irgendwo zwischen
echtem Krieg und einem Videospiel angesiedelt. Man verhängt Embargos
über Länder, die sich nicht wehren können, man wirft Bomben auf
unbedeutende Armeen. Immer raffiniertere Waffensysteme werden
konstruiert und produziert, die genauso präzise sind wie die Waffen
in Videospielen, aber in der Praxis setzt man unbewaffnete Zivilisten
Bombardierungen aus, die dem Bombenkrieg im Zweiten Weltkrieg nicht
nachstehen.

Der demonstrative Militarismus Amerikas, der dazu dienen soll, die
militärtechnische Unterlegenheit aller anderen Akteure weltweit
vorzuführen, hat schließlich die wahren Mächte der Erde beunruhigt
und sie zur Annäherung veranlasst: Europa, Japan und Russland. Hier
erweist sich die amerikanische Taktik als besonders kontraproduktiv.
Die verantwortlichen Politiker in den Vereinigen Staaten glaubten,
sie würden höchstens eine Annäherung zwischen der Großmacht Russland
und den beiden weniger bedeutenden Mächten China und Iran riskieren,
während Japan und Europa ihnen als Protektorate erhalten bleiben
würden. Tatsächlich aber riskieren die Vereinigten Staaten, wenn sie
sich nicht besinnen, eine Annäherung zwischen einer bedeutenden
Nuklearmacht, Russland und zwei dominierenden Wirtschaftsmächten,
Europa und Japan.

Europa wird sich langsam der Tatsache bewusst, dass Russland keine
strategische Bedrohung mehr darstellt - sondern im Gegenteil einen
Beitrag zur europäischen Sicherheit leistet. Die Einbeziehung
Russlands in die Konsultations- und warum nicht auch in die
Entscheidungsprozesse innerhalb der Nato wird nach und nach für die
Europäer zu einer wirklich reizvollen Perspektive, weil damit ein
strategisches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten etabliert
würde.

Für die Liebhaber theoretischer Modelle ist das Verhalten Amerikas
eine ausgezeichnete Gelegenheit zu studieren, wie zuverlässig
negative Gegenreaktionen erfolgen, wenn ein strategischer Akteur ein
Ziel ansteuert, das zu groß für ihn geworden ist. Vor dieser Folie
können wir nur versuchen, die Entstehung einer vernünftigen
politischen Superstruktur zu erleichtern und gewaltsame
Konfrontationen möglichst zu verhindern.

In dem Zustand der Unsicherheit, in dem sich die amerikanische
Wirtschaft und Gesellschaft heute befinden, ist das Gleichgewicht der
atomaren Abschreckung nach wie vor unverzichtbar, ob es nun durch das
russische Waffenarsenal aufrechterhalten wird oder ob die Europäer
ein gemeinsames Abschreckungspotenzial aufbauen. Europa und Japan
müssen direkt mit Russland, dem Iran und der arabischen Welt über die
Sicherung ihrer Ölversorgung verhandeln. Sie haben keinen Grund, sich
auf militärische Showinterventionen nach amerikanischem Vorbild
einzulassen.

Die Vereinten Nationen müssen als Vertretung einer bestimmten
Weltanschauung wie als politische Organisation die Institution
werden, die weltweit für Ausgleich sorgt. Damit die große
Weltorganisation effizienter sein kann, muss sie die realen
ökonomischen Kräfteverhältnisse stärker einbeziehen und ihnen genauer
Rechnung tragen. In einer Welt, wo Krieg mit ökonomischen Mitteln
geführt wird, müssen die beiden großen Wirtschaftsmächte Japan und
Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat haben. Ein Beitrag
zur Anpassung der politischen Superstruktur der Welt an die
ökonomischen Realitäten könnte auch darin bestehen, dass die
Standorte einiger Weltorganisationen von den Vereinigten Staaten nach
Eurasien verlegt würden.

Bei diesen Vorschlägen geht es um sehr viel mehr als eine
institutionelle Form. Worauf es wirklich ankommt: dass wir uns der
tatsächlichen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse auf unserem
Planeten bewusst werden. Wenn die Welt durch das natürliche Spiel der
demografischen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen
Kräfte wirklich zu Gleichgewicht und friedlichem Ausgleich tendiert,
dann bedarf es keiner großen Strategie. Doch wichtig ist: Wir dürfen
nicht vergessen, dass heute wie gestern die großen bewegenden Kräfte
Demografie und Bildung sind und dass die wahre Macht wirtschaftlicher
Natur ist.

Es nützt nichts, wenn wir uns in das Trugbild einer militärischen
Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten verrennen, einer militärischen
Pseudokonkurrenz, mit der Folge, dass wir dauernd irgendwo in Ländern
ohne wirkliche strategische Bedeutung intervenieren. Wir dürfen nicht
nach dem Vorbild der amerikanischen Armee das Konzept des
Kriegsschauplatzes ersetzen durch ein Konzept des Kriegsschauspieles.
Sollten wir an der Seite der Vereinigten Staaten im Irak
intervenieren, würden wir eine Komparsenrolle in einer blutigen Posse
übernehmen. Im 20. Jahrhundert ist es keinem Land gelungen, seine
Macht durch Krieg oder auch nur durch Aufrüstung zu vergrößern.
Frankreich, Deutschland, Japan und Russland haben durch Krieg und
Rüstungswettlauf unendlich viel verloren. Die Vereinigten Staaten
haben sich als Sieger des 20. Jahrhunderts behauptet, weil es ihnen
über einen sehr langen Zeitraum gelungen ist, sich nicht in die
militärischen Auseinandersetzungen der Alten Welt hineinziehen zu
lassen. Folgen wir dem Beispiel dieses Amerika, des erfolgreichen
Amerika."

http://www.taz.de/pt/2003/03/15/a0161.nf/text

Gruß

Stephan
Bewerten
- +
Ansicht umschalten