Wollen die Menschen ihren Individualismus nicht mehr? Wollen sie kein Individuum mehr sein, kein Ego haben, keine Ich-Perspektive?
Wollen sich die Leute nicht von einander unterscheiden? Will jeder Sohn wie sein Vater sein, jede Enkeltochter wie ihr Großvater?
Klar sind die Menschen in unseren Breitengraden bürgerliche Individuen in einer bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland setzte vieles daran, die soziale Befriedung der Klassengegensätze durch die Verbürgerlichung des Arbeiters zu erreichen. Die Rückkehr des gesellschaftlich Depravierten als Klassensubjekt mit der sich zuspitzenden Vermögensungleicheit in der kapitalistischen Gesellschaft wird auch den Individualismus neu Definieren.
Im Augenblick sind die Menschen darauf aus, die Dinge, die sie für ihre Lebensführung brauchen, weitestmöglich in ihr Eigentum zu überführen, weil es noch die sicherste Art ist, ihr Leben damit zu stabilisieren. Sie merken, wie ihnen das langsam wegbricht, anstreben tun sie ihre Enteignung jedoch nicht, sie erleiden sie. Andere schreiben sich nicht das Dollarzeichen auf ihre Fahnen, sondern das Maschinengewehr. Die Prioritäten sind dann andere. Das bestechendste Individuum ist dann der Warlord, der es in seiner Selbstvergöttlichung zum Despoten bringt. Wem die Zukunft gehört, weiß man noch nicht.
Entindividualisierung dürfte am ehesten als Sklaverei gelingen, Kollektivierung als Selbstversklavung wäre das Ideal, der glückliche Sklave. Das Individuum hingegen distanziert sich von der Gesellschaft, die ihn geprägt hat, er negiert und kommt in der Kritik zur Erkenntnis, statt sich immer nur anzupassen. Es glaubt sein eigenes Leben zu führen und seinen eigenen Tod zu sterben, er glaubt an seine eigene Lebenswelt zwischen Geburt und Tod. Die Solidarität mit den andern pflegt er in Erkenntnis der gleichartigen Interessen, die Konkurrenz in der Erkenntnis der widerstreitenden Interessen. Ohne Abgrenzung gibt es keine Selbstbestimmung, ohne Identifikation keinen Gemeinschaftsgeist. Individualismus ohne Gesellschaft scheint mir nicht denkbar, nur aus ihr kann er hervorwachsen.