Die traditionelle Linke war immer stolz auf ihre Verbundenheit mit den Naturwissenschaften. Man verallgemeinerte dies sogar zu Aussagen wie“Fortschrittliche Kräfte stehen immer in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft, wogegen Reaktionäre Kräfte diese leugnen“
Schauen wir uns an, wie es damit bestellt ist, und machen uns auf ein paar Überraschungen gefasst.
Naturwissenschaft befasste sich in der gesamten Epoche der Aufklärung fast ausschließlich mit linearen Zusammenhängen - mit Dingen die sich vollständig kausal in einem Spiel aus Ursache und Wirkung erklären lassen - die vollständig berechenbar sind - und die gleichermassen im Großen wie im Kleinen wirken (etwa die Schwerkraft auf eine Feder oder einen Mond)
Im Prinzip betrachtete man die Natur wie ein großes Urwerk - sicher mit vielen Geheimnissen, die es zu entschlüsseln galt - aber eben doch als eine Maschine, deren Gang unverrückbar feststeht. Und die Prinzipien dieser Maschinerie übertrug man auf die Gesellschaft - was der Autor hier „ökonomistisch“ nennt - ist tatsächlich lediglich eine Erscheinung einer im allgemeineren Sinne „mechanistischen“ Denkweise.
In den Naturwissenschaften selbst stießen Forscher aus allen Gebieten jedoch zunehmend auf Grenzen dieser glatten, geometrischen Sicht - es fehlte etwas Grundlegendes - Etwas, das nicht brav und glatt und berechenbar war - sondern rauh und wild und gezackt und unberechenbar - also ganz nach dem Herzen des Autors in seinem berechtigten Wunsch nach Freiheit und Abenteuer.
Es dauerte bis in die 1970er Jahre, dass diese Problematik einer größeren Öffentlichkeit überhaupt bekannt wurde - u.A. durch Benoît Mandelbrots legendäres Werk „Die fraktale Geometrie der Natur“ - das auch heute noch unbedingt lesenswert ist.
Noch viel länger dauerte es, bis dieses Gedankengut seinen Weg in die Philosophie fand - ausgerechnet durch den Erzkapitalisten Nassim Nicholas Taleb - mit seinem ebenso legendären „Schwarzen Schwan“. Den sollte unbedingt gelesen (und verstanden) haben, wer über „Gesetze in der Gesellschaft“ redet.
Taleb geht da von mathematischer Seite ran, und teilt Prozesse - ob in Natur oder Gesellschaft - in zwei grundlegende Kategorien ein - die er „Mediokristan“ und „Absurdistan“ nennt.
In „Mediokristan“ regieren das Prinzip der Kausalität, der Berechenbarkeit, des Durchschnitt, der Verallgemeinerbarkeit (im Großen wie im Kleinen), die Stichprobenunabhängigkeit (wähle zufällig 1000 Männer und bilde den Durchschnitt - das Ergebnis wird sich auch durch Weglassen oder Hinzufügen auch des größten oder schwersten Mannes kaum ändern)
In diesem Dunstkreis spielt sich quasi die gesamte sozialistische Denke ab - man sieht es schon an der Wortwahl (periodische Krise…). Naja Perioden und Zyklen ist das Kompexeste, was man in dieser Denke hinbekommt - und wie wenig wird das einer lebendigen Wirklichkeit gerecht!
In „Absurdistan“ hingegen regieren das Unerwartete, das Unberechenbare, der Einzelfall (das Ergebnis eines „Durchschnittseinkommens“ ist sehr stark abhängig davon, ob eine Frau Quandt in der Stichprobe enthalten ist oder nicht) - ganz wichtig, Skaleneffekte (dieselben Dinge erscheinen unterschiedlich nach Betrachtungsmasstab) - und nicht zuletzt die „Schwarzen Schwäne“, also gänzlich außerhalb der Vorstellung liegende Ereignisse.
Talebs Kernaussage ist nun - dass sich gesellschaftliche und ökonomische Prozesse grundsätzlich in „Absurdistan“ abspielen. Und seine Kernkritik an den (uA.) Wirtschaftswissenschaften - dass sie mit Instrumenten arbeiten, die für Mediokristan entwickelt wurden und dort auch funktionieren - in Absurdistan, wo sie angewendet werden, aber keinerlei Relevanz besitzen. Und untermauert das sehr eindrucksvoll, indem er systematisch gegen den „wissenschaftlichen Mainstream“ wettet, und dadurch reich wurde.
Beispiele für „Schwarze Schwäne“ gibt es in der jüngsten Vergangenheit genug - die kürzliche Flutkatastrophe - die Wahl von Trump - der Abzug der Amis in Afghanistan - der Kollaps der afghanischen Armee … wenn man hinschaut, bewegt sich die Entwicklung fast ausschließlich zwischen solch „unerwarteten“ Eckpunkten - das scheinbar (!) Rationale dazwischen erscheint fast bedeutungslos.
Ich denke - es war letztlich diese mechanistische Denkweise, dieses „mediokristane Korsett“ - das Zusammenbruch des Ostblocks bewirkte - genauso wie der Kollaps der Linken heute.
Aber genau hier Freunde - in der Existenz des Unberechenbaren - liegt die Chance auf Revolution! Im mathematischen wie im praktischen Sinne. Und jede Menge Freiheit und Abenteuer intellektueller Natur.
Also hört auf, die „glatten“ marxschen Akkumulationsgleichungen wie eine Monstranz vor euch her zu tragen - sondern modelliert sie als stochastischen Prozess mit skalierenden Verteilungen. Hört auf - hochgestochen von einen „Bewegungsgesetz des Preises“ zu reden - wo ihr doch bloß ein simples Pendeln meint, das einer simplen empirischen Prüfung nicht standhält. Hört auf nach „allgemeinen Gesetzen“ zu suchen - wenn es doch um Prozesse geht, die masstabsabhängig sind …
Die Aufgabe ist eine Vision einer Humanistischen Gesellschaft - die eben NICHT in ein mediokristanes Korsett gepresst ist - wo irgendwelche Abweichungen von irgendwelchen Durchschnitten sich irgendwie ausmitteln (tun sie letztlich sowieso nicht) - sondern wo der Einzelfall, das Besondere, der „positive Schwarze Schwan“ eine Chance haben, sich zu entfalten.
Denn die bloße Chance - vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden - sei sie auch noch so winzig - ist tausendmal sexier als ein vorbestimmtes Leben im Käfig irgendeines Durchschnitts. Amen!