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  • savoke

1 Beitrag seit 06.10.2017

Eisbaden zu Epiphanias

Kann man Wladimir Putin mit doppelzüngiger Rhetorik aufs Glatteis führen? Wenn man ihm alles nachsagen kann, aber bestimmt nicht, dass er irrlichternd durch sein Amt marschierte oder gar benebelt, wie es einst Jelzin eindrucksvoll demonstrierte. Putin hat einen messerscharfen Verstand und riecht einen Wolf im Schafspelz meilenweit. Und nicht nur ich komme zu dieser Erkenntnis. Nein ich behaupte, dass all die, die die Expansion der NATO und die aggressive Rhetorik der letzten Jahre praktizierten, exakt wissen, wie die russische Führung die geopolitische und propagandistische Handlungsstrategie zu interpretieren weiß.
Entlang der Maximen des aktuell vorherrschenden Narrativs wird jedwede Betrachtung der Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine auf schärfste sanktioniert. Mit Ächtung, Diskreditierung und Verfolgung derer, die sich auch nur wagen, eine Rekonstruktion vor dem Hintergrund eines Grund-Folge Prinzips zu bemühen, welches jeglichem Handeln bzw. sozialer Interaktion zugrunde liegt. Zudem wird durch Sprache und Bild, Angst geschürt und es werden pawlowesk all die Weltuntergangsszenarien bemüht, die kausal auf den bösen Russen zurückzuführen und verfügbar sind. Sich selbst setzt man messianisch in Szene.
Maximal dialektisch wird der Russe als das Böse und der Westen als das Gute präsentiert. Gegensätze, die bereits der Vorsokratiker Heraklit als die Treibfeder dessen, was die Welt bewegt, bezeichnet hat. Doch im Bereich der sozialen Interaktion gibt es kein Schwarz und Weiß. Es herrscht ein Grund-Folge Prinzip. In der Naturwissenschaft hingegen spricht man vom Ursache-Wirkungs-Prinzip. Soziale Probleme und Interaktionen sind jedoch komplexer und die Ergebnisse, also die Folgen, die daraus entstehen, sind nicht im Sinne eines a priori oder voraussetzungsvoll als gegensätzlich zu erwarten bzw. zu definieren. Das Leben und die ihm immanenten Phänomene haben einen Prozesscharakter und verlaufen somit sequenziell. In der qualitativen Sozialforschung und explizit in der Methodologie der „Objektiven Hermeneutik“ (ein Analyseinstrument des deutschen Soziologen Ulrich Oevermann, welches sich dem Vorhaben der Strukturerschließung menschlicher Lebenspraxis verschrieben hat) arbeitet man in der Betrachtung von Narrationen, welche beispielsweise in Form biografischer Interviews vorliegen können, also in Form von Textmaterial, mit dem Auswertungsinstrument der Sequenzanalyse. Nicht ohne Grund spricht Oevermann in einem seiner Werke davon, „wie wir zu dem werden, was wir sind“. Das Leben wird vorwärts gelebt, kann jedoch nur rückwärts, also rekonstruktionslogisch verstanden werden. Ein kategorischer Ausschluss einer rückwärtsgerichteten Betrachtung sozialer Phänomene mutet demnach völlig unzureichend und somit absurd an. Unsere Eliten jedoch erlauben sich, uns genau dies zu untersagen.
Man muss also konstatieren, dass sich der vollends delegitimiert, der den Russen verdammt (Der an dieser Stelle verwendete Begriff „Russe“ spielt auf die pauschalisierende Schuldzuschreibung des Westens an) und die Regierung Russlands für ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine unreflektiert und opportunistisch aburteilt, die eigenen Angriffskriege der vergangenen Jahrzehnte ausblendet, also eine durchaus sinnvolle Selbstreflexion verweigert. Man hält an der Dämonisierung derer fest, denen man in der Verwendung brutaler und natürlich zu verurteilender militärischer Mittel gegen andere Völker in nichts nachsteht. Das Schlimme ist jedoch, dass an Stelle einer Delegitimierung dieser Akteure, in den Tiefen diverser Phänomenbereiche gegen eine Delegitimierung von außen gekämpft wird. Man hat das Gefühl, überall herrscht Krieg. Hatte Chomsky nicht gemeint, wir befinden uns im Krieg gegen ein Virus?! Dann der Krieg in der Ukraine und viele weitere Kriege an diversen Fronten. Wobei sich so manche Front in den eigenen vier Wänden auftun könnte, wenn im Vergleich zu den dekadenten und überdimensionierten Fernsehapparaten einer einstigen Realität, vor den eher miniaturhaft anmutenden und auf Empfehlung des Wirtschaftsministers installierten Modellen der 90er Jahre friert wie Putin beim Eisbaden zu Epiphanias.
Das Volk, man erlaube mir an dieser Stelle diesen Begriff, auch wenn Herr Habeck ihm die Existenzgrundlage abspricht, muss sich wohl so fühlen. Vielleicht nicht alle Individuen, die sich im Begriff des Volkes manifestieren, jedoch hat man den Eindruck, immer mehr Menschen sehen, verstehen gar, wirken jedoch wie gelähmt in ihrer havarierten Selbstwirksamkeit.

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