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  • Denkerpferd

101 Beiträge seit 27.04.2022

Nietzsche nannte es "den letzten Menschen"

Und meinte damit im Grunde genommen genau das, was Leontjew hier doch treffend beschreibt. Mittelmaß ist heutzutage doch alles. Der Käse schmeckt mild, der Fahrradhelm sitzt, wenn man im Schneckentempo anderen im Weg ist, und die allgemeinen Gesprächsthemen verlassen nie das Terrain des Bedeutungslosen. Der Mensch steht auf und verrichtet mittelmäßige Jobs, für die er mittelmäßig ausgebildet wurde. Damit verdient er einen bestenfalls mittelmäßigen Sklavenlohn, mit dem er sich mit mittelmäßigen Filmchen, Urlauben und Videospielen vom mittelmäßigen Elend seines Daseins ablenken kann. Zum Abendessen gibt es mittelmäßig schmeckenden und mittlerweile veganen Industriefraß.

Dass diese Entwicklung schon im 19. Jhr. abzusehen war, ist nicht verwunderlich. Zunächst der damals in Berlin ansässige dänische Autor Georg Brandes in seinem Essay "Klavierspiel und Servilität" (1877):

"Servilität und Pianoforte, sage ich. Das ist identisch. Unter beider Blüte bilden die Betreffenden sich ein, Gefühle zu haben, die sie nicht haben. Die allermeisten Menschen leben leider in einem gewohnheitsmäßigen Gespinst erlogener Empfindungen. So spielen sie sechs Stunden am Tag Klavier und glauben, sie fänden darin Unterhaltung und verkehrten derweil mit einer Muse, und so verehren andere mit hysterischer Leidenschaftlichkeit den Kaiser, Bismarck, die kleinen und großen Prinzen und glauben, sie fühlten gewaltige Begeisterung. Es ist Klimperei, mechanische Nachahmung, falscher Anschlag, schlechte Musik im einen wie im anderen Fall. Brave Leute - schlechte Musikanten!"

Klavierspiel muss man heute mit Streaming, Social Media, Bundesliga und Videospiel ersetzen, den Kaiser mit Veganismus, Genderideologie, Klimawandel oder eben die Gegenbewegungen dazu (kein Unterschied). Der Rest ist immer noch absolut akurat. Es ist schlicht und einfach gedankenloses Mittelmaß.

Und nun Nietzsche in "Also sprach Zarathustra" (1883-1885):

"Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze. Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können.
[...]
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage Euch: Ihr habt noch Chaos in Euch.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichen Menschen, der sich selbst nicht mehr verachten kann. Seht! Ich zeige Euch den letzten Menschen.
Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? So fragt der letzte Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht.
[...]
Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln.
[...]
Krankwerden und Mißtrauen-Haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Tor, der noch über Steine und Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und Eine Herde! Jeder will das gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus."

Nietzsche war ein Visionär und wurde deswegen bis heute meist missverstanden. Aber hier beschreibt er, in einer Rede Zarathustras verpackt, die heutige Zeit des digitalen Mittelmaßes auf den Punkt. Worin genau unterscheidet sich das von Leontjew? Auch westeuropäische Intellektuelle erkannten bereits den Keim des Mittelmaßes, welcher sich im Kapitalismus anbahnte. Dass unsere sog. Demokratie keine ist, sondern eine Oligarchie oder Plutokratie, die sich in ihrer Struktur von der Aristokratie prinzipiell gar nicht unterscheidet, mal beiseite gelassen, bzw. nur kurz erwähnt. Sowohl Brandes als auch Nietzsche schätzten die paneuropäische Idee, die heute zum "neoliberalen" und maximal korrupten Totalitarismus verkommen ist. Man muss Europa nicht verachten, um es zu kritisieren. Die Russen verachten Europa nicht, sie sind Teil davon, wurden aber vom romanisch-christlichen Teil stets ausgegrenzt. Es ist allerdings bezeichnend für das digitale Mittelalter des absoluten Mittelmaßes, dass Kritik heute als "Verachtung" (extern, russisch) oder "Hass" (intern, rechts) empfunden wird, denn wir leben in der "Zeit des verächtlichen Menschen, der sich selbst nicht mehr verachten kann" und der daher jede Kritik an ihm und sein Gebaren als Verachtung und Hass empfinden muss. Er kann nicht anders. Er ist der letzte Mensch, der sich nicht mehr entwickeln kann.

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