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Re: Fehlendes Selbstbewusstsein?

1FC schrieb am 24.08.2022 15:19:

Vielleicht muss ich den Artikel ja noch einmal lesen, aber das erste Mal Lesen hat bei mir den Eindruck hinterlassen, als fehle es Russland an einer Portion Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl.
Ganz ehrlich: Mir persönlich ging Russland im Grunde immer ein Stück weit am Allerwertesten vorbei. Das ist nicht despektierlich gemeint und ich habe auch wirklich kein Problem mit diesem Land als solches (auch heute nicht, dafür aber mit den aktuellen Entscheidungsträgern).
In meiner Jugend war das noch wahlweise der Ostblock oder die UdSSR. Manchmal haben wir auch einfach damals schon zu allem Russland gesagt. Erziehungstechnisch wurde mir auch nie irgendwie versucht ein „böses Feinbild“ einzubläuen oder so was. Im Gegenteil, mir taten die Menschen jenseits der Mauer eher leid. Nach dem Zerfall dieser Zweckgemeinschaft spielte Russland erst mal keine wesentliche Rolle, die mussten sich ja erst mal wieder berappeln.
Vor ca. 10 Jahren oder so war ich mal beruflich dort. Das Werk das ich dabei besuchte war ungefähr 200km oder so von Moskau Richtung Hinterland. Eine Erfahrung wie im Film, ehrlich. Sämtliche Klischees habe ich tatsächlich vorgefunden. Vom Abholservice der unterwegs irgendwelche Polizisten geschmiert hat (? ich glaube zumindest das waren Polizisten), über die abendliche Vodka Sause mit auffallend vielen ebenfalls anwesenden netten Mädels bis hin zum Versuch mir ein „Geschenk“ zu machen, war so ziemlich alles dabei. Ich bin übrigens „nur“ Ingenieur, wohl gemerkt. Ich war da nur wegen Maschinen von uns aus Deutschland vor Ort. Nein, nicht wegen Turbinen und auch sonst nichts spektakuläres :-)
Das Werk als solches hat mich ein bißchen wie mit der Zeitmaschine zurückreisen lassen. So wirklich Stand der Technik war das nicht mehr. Unsere Maschinen waren da echt das Neuste in der Halle. Und auch die Mitarbeiter waren irgendwie anders, als ich das gewohnt bin. Scheinbar war/ ist eine Lehre hier doch nicht so verkehrt. Die waren vor Ort allerdings sehr gastfreundlich und nett, da kann ich echt nichts sagen. Verhungern tut man da nicht als Gast…
Moskau (da hatte ich mein Zimmer) fand ich sehr krass und auch beeindruckend. Da ist die Düsseldorfer Kö ja fast schon ein sozialer Brennpunkt gegen. Die Autolandschaft dort war geprägt von deutschen Modellen mehrheitlich aus Stuttgart und München und auch sonst empfand ich Moskau eher ziemlich „westlich“.

Basierend auf dieser (zugegeben nicht repräsentativen und zudem subjektiven) Erfahrung kann ich also dem Artikel nicht so ganz folgen. Mir kam das so vor als würde nach dem sog. Westen regelrecht gestrebt werden. Von einer Ablehnung westlicher Werte im Sinne von way of life war definitiv nichts zu merken.

Daß Putin dagegen ein ziemlicher Nostalgiker zu sein scheint kann man ruhigen Gewissens unterstreichen. Da macht er ja selbst auch keinen Hehl draus.
Und daß die slawische und germanische Mentalität nicht 100% kompatibel ist bzw. einfach Unterschiede aufweist sehe ich auch so. Ist aber auch nicht schlimm, ich weiß nicht wieso im Artikel so darauf eingegangen wird. Selbst ein Bayer und ein Rheinländer haben eine andere Mentalität. Ist doch schön, trotzdem bin ich gern mal auf ne Maß in München und der Bayer ist stets herzlich auf ein Kölsch eingeladen.

Übrigens sind die USA ursprünglich auch mehrheitlich eher „germanisch-romanische“ Europäer (Ja, ich weiß, eigentlich waren es ursprünglich Ureinwohner - bitte jetzt keine Winnetou Diskussion). Drei grosse Einwanderungsgruppen waren dabei Engländer, Deutsche und Iren. Warum im Artikel da unterschieden wird und vergessen wird wie „alt“ die Geschichte von Europa und Russland im Vergleich zur USA ist, erschließt sich mir nicht. Im Artikel heisst es nämlich daß Dugin im germanisch-romanischen Europa nicht den Feind sieht sondern in den USA als letzte Weltmacht … oder so.
Am Rande: Hier finde ich sollten wir als Europa uns nicht einreden lassen kleiner zu sein als wir sind. Wenn Europa mal zusammenstehen würde wäre das auch ne ziemliche Macht. Leider wurde damals am Reißbrett vergessen, daß allein aufgrund der Geschichte, der Kulturen, der Mentalitäten, der historisch gewachsenen Verbindungen ein „United States of Europe“ NICHT nach dem Vorbild USA funktionieren kann. Brüssel ist nicht Washington und die Länder sind keine Bundesstaaten. Sobald das auch endlich mal erkannt wird, bin ich guten Mutes daß auch Europa enger zusammenrücken kann. Alle Welt schreit nach Synergien und kurzen Wegen und so, aber unsere Nachbarn scheinen wir nicht immer mit ins Boot zu holen. Anstatt zum Beispiel mal in die Niederlande zu schauen daß eine Großstadt viele viele Jahre und viel Planung braucht um zum Beispiel ein vernünftiges Fahrradkonzept zu haben, schmieren die hier in Köln einfach über Nacht einen roten Streifen auf die rechte Spur, bewerben sich direkt als fahrradfreundlichste Stadt der Welt, um sich dann zu wundern daß Chaos ausbricht… Warum das Rad immer neu erfinden wenn es bewährte Lösungen schon gibt. Und diese sogar quasi nur ums Eck sind.

Abschliessend zu Putins Motiv. Im Artikel heisst es:

Dina Khapaeva – sie wurde schon weiter oben zitiert – rät davon ab, sich über die Frage "Was will Putin" allzu sehr den Kopf zu zerbrechen. Ihr Fazit lakonisch: Er ist selbstverständlich in erster Linie ein Produkt der KGB-Denkfabrik, freilich mit bedenklichen vaterländischen Anleihen

Wie soll ich das jetzt interpretieren? Daß er einfach bekloppt ist, in den 80ern stehengeblieben ist und Geheimdienste eh einen versauen (ok, das kann ich mir gut vorstellen). Bei aller Liebe, aber wir reden hier über einen Mann der dafür verantwortlich ist daß aktuell Menschen unnötig sterben. Dafür ist mir das zu billig.

Der (…) Sinn von Putins Erinnerungspolitik ist es, die Russen glauben zu machen, dass das russische Mittelalter eine großartige Gesellschaft war, eine wunderbare Alternative zur Demokratie, viel besser als die Demokratie. Das Ziel dieser Erinnerungspolitik ist die Wiederherstellung eines Imperiums, die Militarisierung der öffentlichen Meinung und die Propagierung von Staatsterror als großer nationaler Tradition.

Und das liest sich wie ein Abziehbildchen aus Nord-Korea. „Sinn von Kim Jong Uns Politik ist es die Nord-Koreaner glauben zu machen…

Persönliches Fazit:
Wie gesagt, kann sein daß ich den Artikel nicht richtig verstanden habe. Ich persönlich bin auch alles andere als ein Russland-Experte. Allerdings habe ich aus genannten Gründen eine andere Sicht. Ich finde die Russen konstruieren eher dieses West-Ost Feindbild als andersrum. Im Gegenteil sogar, ich habe eher den Eindruck daß nach dem Zerfall der Sowjetunion Russland nicht mehr so die Aufmerksamkeit bekam wie früher (damals in den 70er, 80er gefühlt täglich in den Nachrichten). Daher meine Vermutung daß da möglicherweise beim „stolzen Russen“ Putin am Selbstbewusstsein gekratzt wurde. Der Mann der oberkörperfrei durch die Landschaft reitet und dabei mit der bloßen Hand noch einen Lachs angelt und auf dem Rückweg noch siegreich gegen einen Bären kämpft.
Schon Scheisse wenn die Welt einen plötzlich nicht mehr diese Aufmerksamkeit schenkt.
Dann muss auf jeden Fall auch das ständige ignorieren seitens des Westens enorm im Ego verletzt haben. Putin hatte schließlich mehrfach an der Nato- EU - UN ,was weiß ich Tür, geklopft und wurde wie ein Bub mit nem Klaps weggeschickt.
Kurzum: Eine derartige Einteilung in Ost- und West wie zu Zeiten des kalten Krieges habe ich für meinen Teil seit Jahrzehnten nicht mehr so wahrgenommen. Ich finde daß in der Zeit eher noch China mehr in den Fokus gerückt ist.
Es wird also scheinbar von Russland irgendwas konstruiert, das eigentlich schon längst Geschichte ist. So kommt es mir nach dem Lesen des Artikels jedenfalls vor. Als wenn die ne Identitätskrise hätten und sauer wären daß die USA, die EU und China die nicht mehr überall mitspielen lassen.

Wie sehr ihr das?

Gruß, Baxter

Du siehst schon vieles richtig, denke ich. Aber eine Identitätskrise haben die Russen mit Sicherheit nicht. Im Gegenteil, sie verachten unterwürfige Vasallen, welche ihre Identität leugnen und sich aufgegeben haben.

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