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  • Der Paraklet von Kaborka

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Waldsterben

Das "Waldsterben" wurde zur Metapher einer weltweiten
Umweltkatastrophe

Sind die Deutschen immer noch das Waldvolk, das sie im 19. und in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im eigenen Selbstbild und auch im
Fremdbild ihrer Nachbarn sein sollten? - Verhalten sie sich
tatsächlich so, wie es Elias Canetti 1960 über sie schrieb? "Das
Rigide und Parallele der aufrecht stehenden Bäume, ihre Dichte und
ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und
geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren
gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen"
(Canetti 1960, 195).
Wer nach den Gründen für die Karriere des Themas "Waldsterben" in den
Massenmedien und im Bewusstsein der Bevölkerung in den 1980er-Jahren
fragt, wird kaum daran vorbeikommen, den Waldmythos in Betracht zu
ziehen und die romantischen Angebote unseres Waldbewusstseins unter
die Ursachen dieser kollektiven Erregung zu zählen. Der
Untergangsmythos vom "Waldsterben" erreichte offenbar wirklich
verborgene seelische Schichten. Die Angst vor dem Verlust kultureller
Traditionen gehört ohnehin zu den Motiven der Romantik. Wie schon die
romantische Bewegung und ihre Waldliebe, so war dann auch die Angst
vor dem Waldsterben zunächst ein Phänomen der Städte (Holzberger
1995; Lehmann 1999, 263ff.). Je naturferner die Bevölkerung lebte,
desto gewisser war sie sich des Verlustes der Wälder und gelegentlich
des daraus resultierenden Untergangs der ganzen Menschheit. Wohl kaum
in deutschen Dörfern, aber überall in den Großstädten fand sich der
populäre Wandspruch "Erst stirbt der Baum, dann stirbt der Mensch".
Dem deutschen Wald wurde in den 1980er-Jahren von vielen Journalisten
nur noch eine kurze Zeit des Überlebens verheißen. "Schauen Sie sich
ihn noch einmal an. Bald gibt es den deutschen Wald nicht mehr", galt
als eine wissenschaftlich gesicherte journalistische Aussage. Rudi
Holzberger (1995) hat in seiner Untersuchung des journalistischen
Diskurses über das "Waldsterben" die Medienkarriere des Themas
minutiös analysiert. Als Forstwissenschaftler und Umweltschützer im
Jahre 1978 aufgrund ihrer ökologischen Untersuchungen zum ersten Mal
Hinweise auf den bedrohlichen Zustand vieler Wälder gaben, reagierten
die Presse und das Fernsehen ungewöhnlich schnell. Zwei bis drei
Jahre später bestimmte das Thema die gesamte Diskussion über Natur.
Wer als Wissenschaftler zur Vorsicht vor einem ungebremsten
Alarmismus warnte, hatte keine Chance, in den Medien überhaupt zur
Kenntnis genommen zu werden. Der "sterbende" Wald war zur Metapher
für eine weltweite Umweltkatastrophe geworden.
Inwieweit damals erwachsene Leute ernsthaft an die minutiös
aufgelisteten Schreckensszenarien dieses Todesmythos glaubten, ist
eine offene Frage. Auch bei anderen Mythen ist die Frage der
individuellen Glaubensbereitschaft schwer zu beantworten. Doch die
Tatsache, dass im Mythos vom "Waldsterben" der alte Mythos von den
Deutschen und den ihre Kultur und das Leben spendenden Wäldern
nachhallte, ist kaum zu bestreiten. In den Nachbarländern, vor allem
in Frankreich, staunten die Journalisten über diesen neuerlichen
Ausbruch deutscher Angst. Inzwischen ist die Gewissheit über das
Sterben der Wälder selbst in den Publikationsorganen, die damals dem
Wald nur noch einige Überlebensjahre geben wollten, einer nüchternen
Beobachtung gewichen: "Generelle Urteile über die Auswirkungen der
Eingriffe der Menschen in das neben den Ozeanen wichtigste Ökosystem
der Erde sind nicht möglich" (Paper news 1996; Küster 1998, 220ff.).


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