Im Namen utopischer Ideale werden seit Menschengedenken Revolutionen
geführt. Sind die alten Autoritäten beseitigt, entartet leider allzu
oft die Revolution und frisst ihre Kinder. In ihren Visionen einer
besseren Gesellschaft meinten Utopisten jeglicher Provenienz, Mittel
und Wege aufzuzeigen, wie das Zusammenleben in Einklang zu bringen
sei. Man kann mit Marcuse in den utopischen Gegenwelten immer auch
eine Reaktion auf Fehlentwicklungen, Defizite und Krisen des
gesellschaftlichen Entstehungskontextes erkennen. Die utopische
Sozialkritik der klassischen Tradition hatte die Aufgabe, das Elend
zu benennen, von dem der utopische Entwurf befreien sollte. Der
Anti-Individualismus als Charakteristikum der Utopiezeugnisse seit
Thomas Morus fand theoretisch sein Korrektiv im
Emanzipationsgedanken: dadurch dass der Einzelne im Kollektiv aufging
wurde ihm zu seiner Würde verholfen. Nicht mehr Egoismus und
Egozentrismus in Form von Partikularinteressen, sondern das
Allgemeinwohl nach dem Rousseau’schen Gedanken des volonté générale
sollte herrschen um die Menschheit aus Elend und Ausbeutung zu
befreien. Schon in Morus „Utopia“ soll die Beseitigung des
Privatbesitzes zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit führen.
Mit der Abschaffung des Privateigentums hoffte man dessen
korrumpierender Einfluss zu unterbinden. An Gemeinnützigkeit
orientierte Gesellschaftskonzepte propagieren seit den Anfängen des
politischen Denkens Ideen wie Gemeineigentum, umfassende alternative
Bildungsprozesse, Dezentralisierung und Ächtung des dekadenten,
luxuriösen Lebensstils einer parasitären Kaste, die sich Besitz und
Privilegien illegitim angeeignet hat. Die Sinn- und Ordnung
stiftenden Utopien, deren Realisierung seit dem 18. Jahrhundert in
engem Zusammenhang mit dem Begriff der Revolution steht, kennen
allerdings auch Reprimitivierung, sexuelle Repression, Sklaverei,
Todesstrafe und Krieg. Um das Primat des Ganzen, demzufolge der
Einzelne im Kollektiv aufgeht und die Einheit des Staates
durchzusetzen, herrscht in den autoritär-etatistischen Utopien ein
strenger Normen- und Verhaltenskodex, der oftmals auch Ehe,
Berufswahl oder Kleidung staatlichem Reglement unterwirft. In den
Ordnungsutopien, als deren Begründer Platon und Campanella gelten,
ist die Gesellschaft streng hierarchisch strukturiert. Abgesehen
davon, dass politische Gleichheit und Freiheit der Bürger in diesen
idealen Gemeinwesen non-existent sind, lassen die Herrschaftsmethoden
eine Geisteshaltung erkennen, wonach der Zweck die Mittel heiligt.
Im Kern der Dystopien steht dagegen ein düsteres Zukunftsszenario,
das beschreibt wie und warum der Freiheitskampf in der politischen
Katastrophe endet. Als die Menschen im Zuge der Modernisierung und
Technisierung ihrer Lebenswelt zunehmend die destruktiven Kräfte des
Fortschritts kennen lernten, zerplatzten viele revolutionäre
Wunschträume. Am Horizont der Zukunftserwartung traten gefürchtete
Lösungen stärker hervor als gewünschte. Ein wesentlicher Grund für
die Dominanz negativer Utopien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs,
liegt in der besorgniserregenden Schwächung individueller Autonomie
durch den Sachzwang der Technik. Die Entfaltung der Produktivkräfte
auf höchstem wissenschaftlich-technischem Niveau hatte nicht – wie
erwartet – zur Entstehung eines neuen Menschen geführt. Vielleicht
war die Erwartung, mit den modernen Errungenschaften würde die
Befähigung der Menschen einhergehen, diese positiv zu nutzen und die
Möglichkeiten der Naturbeherrschung sowie der gesellschaftlichen
Planung an humane Zwecke zu binden, allzu optimistisch. Der Zweifel
an der individuellen und gesellschaftlichen Verantwortungsfähigkeit
des Menschen wächst ebenso wie die offene Diskrepanz zwischen dem
Niveau der Naturkontrolle, der Gesellschaftskontrolle und der
Selbstkontrolle der Menschen. Mit der Ausdehnung des Bereichs der
Machbarkeit hat sich auch die Mitverantwortung aller Menschen am
Schicksal der Welt vergrößert. Da die Menschheit dieser Verantwortung
anscheinend nicht gewachsen ist, steigt die Verunsicherung. Weil
utopisches Gedankengut das Risiko birgt, an der Realität zu scheitern
und totalitären Kräften Bahn zu brechen, ist bei den negativen
Utopien der Gegenstand der Sozialkritik ausgewechselt: an die Stelle
der Ausbeutungsmechanismen der realen Gesellschaften treten die des
utopischen Gemeinwesens selbst.
Renaissance der Utopien?
Die 1949 publizierte Dystopie „1984“ von George Orwell, der Zeit
seines Lebens Verfechter früh-sozialistischer Ideale war, zählt nicht
nur zu den meistgelesenen, sondern auch zu den am kontroversesten
diskutierten Büchern der Weltliteratur. Eines der zentralen Anliegen
Orwells ist es, zu zeigen, wie ausgehend von der politischen und
sozialen Weltlage zur Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts eine
post-totalitäre Schreckensherrschaft weltweit die Macht ergreift. Im
Anschluss an James Burnham sieht Orwell im modernen Totalitarismus,
verkörpert in Form des oligarchischen oder bürokratischen
Kollektivismus, eine weltumspannende Gefahr. Es ist nicht zu leugnen,
dass eine tiefe Desillusionierung hinsichtlich der Realisierbarkeit
des utopischen Sozialismus Niederschlag in diesem letzten Werk
Orwells gefunden hat. Ebenso wie der Nationalsozialismus stellte das
sowjetische Regime nach dem Scheitern des bolschewistischen
Experiments ein historisches Vorbild für die in „1984“ geschilderte,
post-totalitäre Schrecksherrschaft dar. Aus zentralen Passagen des
Romans spricht Orwells Enttäuschung hinsichtlich des real
existierenden Sozialismus in der Sowjetunion. Durch die
bolschewistische Oktoberrevolution 1917 war letztendlich doch kein
wirklicher Wandel der gesellschaftlichen Struktur herbeigeführt
worden. James Burnham, dessen 1941 erschienenes Buch „Das Regime der
Manager“ Orwell nachhaltig beeinflusste, beschrieb die Verhältnisse
wie folgt: „Von den drei entscheidenden Merkmalen der sozialistischen
Gesellschaft – Klassenlosigkeit, Freiheit und Internationalität – ist
Russland heute unermesslich viel weiter entfernt als während der
ersten Jahre der Revolution.“ In „1984“ übernimmt Orwell Burnhams
Hauptthese, dass den kranken Kapitalismus nicht der utopische
Sozialismus beerben werde, sondern eine neue, auf Kollektiveigentum
basierende Ausbeutergesellschaft technokratischer Manager. In der
Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland waren
Vorformen dieser neuen Gesellschaftsordnung zu erkennen.
Orwell nennt in seinem Werk explizit Gründe für den dialektischen
Umschwung von den klassischen Sozialutopien zu den, nach den
Zwanziger Jahren dominierenden, negativen oder schwarzen Utopien, in
deren Tradition er seinen Roman „1984“ sah. Betrachtet man die
Evolution von Mensch und Gesellschaft, so zeigt sich, dass sich
Geschichte als Geschichte von Kämpfen um Macht konstituiert. „Von
Anbeginn der geschichtlichen Überlieferungen (…) gab es auf der Welt
drei Arten von Menschen: die Oberen, die Mittleren und die Unteren
(…) die Grundstruktur hat sich nie gewandelt.“ Stets versuchten die
Oberen ihren Machtanspruch und damit die Ungleichheit der Menschen
festzuschreiben, während „die Mitte unter dem Banner der Gleichheit“
und durch Mobilisierung der Unterschicht Revolutionen führte. Sobald
allerdings die alten Machthaber gestürzt waren, schwangen sich die
ehemals so egalitär gesonnnen Mittelgruppen selbst zur
Herrschaftselite auf und errichteten eine neue Tyrannei, um ihre
Position zu sichern. Auf Grund des technischen Fortschritts war seit
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen
faktisch möglich geworden. Obwohl das utopische Ideal eines
„irdischen Paradieses“ greifbar nah schien, wurde es in der
post-revolutionären Phase nicht realisiert, sondern diskreditiert.
Orwell schildert wie der emanzipatorische Anspruch der Revolutionäre
in sein Gegenteil verkehrt wird und führt uns auf abschreckende Art
vor Augen wie die ganze Erde das Scheitern utopischer Ideale bitter
büssen muss. Dies gilt in der politischen Utopienforschung als eine
der entscheidenden Ursachen für den Umschlag zur Dominanz negativer
Utopien. Für wahr keine guten Aussichten für positive Visionen,
politischen Aktivismus und Idealismus, die so manchen revolutionären
Funken im Keime ersticken. Für den Zeitgeist der Postmoderne ist vor
allem die fundamentale Kritik an Totalauslegungen der Geschichte, auf
Basis derer die Gesellschaft als Ganzes rational gestalten werden
soll, charakteristisch. Die „großen Erzählungen“, werden auf Grund
der desaströsen Konsequenzen ihres blinden Fortschrittsglaubens
abgelehnt. Man plädiert für Piecemeal-engineering anstelle des
utopischen Holismus.
Nachdem das Zwanzigste Jahrhundert uns mit den katastrophalen
Auswirkungen mythischer, religiöser oder ideologischer Heilslehren
konfrontierte, begreift man utopische Entwürfe heute eher als
Zukunftsszenarien, in denen sich die Konsequenzen bestimmter
Annahmen, Lösungsstrategien oder Prinzipien in der Imagination
durchspielen lassen. Im philosophischen und soziopolitischen Diskurs
ermöglichen sie Austausch und Verständigung einer Gesellschaft über
ihre eigenen Zielvorstellungen, sowie ein Abwägen der Kosten
gegenüber dem Nutzen. Auf utopische Vorstellungen gänzlich zu
verzichten ist dem Einzelnen kaum möglich und birgt
gesamtgesellschaftlich betrachtet, die Gefahr, sich den gegenwärtigen
Entwicklungstrends und den darin wirksamen Sachzwängen mehr oder
weniger bedingungslos auszuliefern. Herbert Marcuse, der in seiner
kritischen Analyse des „eindimensionalen Menschen“ die politische und
geistige Gleichschaltung in der fortgeschrittenen industriellen
Zivilisation als demokratische Unfreiheit kritisierte, hoffte auf die
utopischen „Tendenzen in Theorie und Praxis, die in einer gegebenen
Gesellschaft über das etablierte Universum von Sprechen und Handeln
in Richtung auf seine geschichtlichen Alternativen ‚hinausschießen’“.
geführt. Sind die alten Autoritäten beseitigt, entartet leider allzu
oft die Revolution und frisst ihre Kinder. In ihren Visionen einer
besseren Gesellschaft meinten Utopisten jeglicher Provenienz, Mittel
und Wege aufzuzeigen, wie das Zusammenleben in Einklang zu bringen
sei. Man kann mit Marcuse in den utopischen Gegenwelten immer auch
eine Reaktion auf Fehlentwicklungen, Defizite und Krisen des
gesellschaftlichen Entstehungskontextes erkennen. Die utopische
Sozialkritik der klassischen Tradition hatte die Aufgabe, das Elend
zu benennen, von dem der utopische Entwurf befreien sollte. Der
Anti-Individualismus als Charakteristikum der Utopiezeugnisse seit
Thomas Morus fand theoretisch sein Korrektiv im
Emanzipationsgedanken: dadurch dass der Einzelne im Kollektiv aufging
wurde ihm zu seiner Würde verholfen. Nicht mehr Egoismus und
Egozentrismus in Form von Partikularinteressen, sondern das
Allgemeinwohl nach dem Rousseau’schen Gedanken des volonté générale
sollte herrschen um die Menschheit aus Elend und Ausbeutung zu
befreien. Schon in Morus „Utopia“ soll die Beseitigung des
Privatbesitzes zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit führen.
Mit der Abschaffung des Privateigentums hoffte man dessen
korrumpierender Einfluss zu unterbinden. An Gemeinnützigkeit
orientierte Gesellschaftskonzepte propagieren seit den Anfängen des
politischen Denkens Ideen wie Gemeineigentum, umfassende alternative
Bildungsprozesse, Dezentralisierung und Ächtung des dekadenten,
luxuriösen Lebensstils einer parasitären Kaste, die sich Besitz und
Privilegien illegitim angeeignet hat. Die Sinn- und Ordnung
stiftenden Utopien, deren Realisierung seit dem 18. Jahrhundert in
engem Zusammenhang mit dem Begriff der Revolution steht, kennen
allerdings auch Reprimitivierung, sexuelle Repression, Sklaverei,
Todesstrafe und Krieg. Um das Primat des Ganzen, demzufolge der
Einzelne im Kollektiv aufgeht und die Einheit des Staates
durchzusetzen, herrscht in den autoritär-etatistischen Utopien ein
strenger Normen- und Verhaltenskodex, der oftmals auch Ehe,
Berufswahl oder Kleidung staatlichem Reglement unterwirft. In den
Ordnungsutopien, als deren Begründer Platon und Campanella gelten,
ist die Gesellschaft streng hierarchisch strukturiert. Abgesehen
davon, dass politische Gleichheit und Freiheit der Bürger in diesen
idealen Gemeinwesen non-existent sind, lassen die Herrschaftsmethoden
eine Geisteshaltung erkennen, wonach der Zweck die Mittel heiligt.
Im Kern der Dystopien steht dagegen ein düsteres Zukunftsszenario,
das beschreibt wie und warum der Freiheitskampf in der politischen
Katastrophe endet. Als die Menschen im Zuge der Modernisierung und
Technisierung ihrer Lebenswelt zunehmend die destruktiven Kräfte des
Fortschritts kennen lernten, zerplatzten viele revolutionäre
Wunschträume. Am Horizont der Zukunftserwartung traten gefürchtete
Lösungen stärker hervor als gewünschte. Ein wesentlicher Grund für
die Dominanz negativer Utopien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs,
liegt in der besorgniserregenden Schwächung individueller Autonomie
durch den Sachzwang der Technik. Die Entfaltung der Produktivkräfte
auf höchstem wissenschaftlich-technischem Niveau hatte nicht – wie
erwartet – zur Entstehung eines neuen Menschen geführt. Vielleicht
war die Erwartung, mit den modernen Errungenschaften würde die
Befähigung der Menschen einhergehen, diese positiv zu nutzen und die
Möglichkeiten der Naturbeherrschung sowie der gesellschaftlichen
Planung an humane Zwecke zu binden, allzu optimistisch. Der Zweifel
an der individuellen und gesellschaftlichen Verantwortungsfähigkeit
des Menschen wächst ebenso wie die offene Diskrepanz zwischen dem
Niveau der Naturkontrolle, der Gesellschaftskontrolle und der
Selbstkontrolle der Menschen. Mit der Ausdehnung des Bereichs der
Machbarkeit hat sich auch die Mitverantwortung aller Menschen am
Schicksal der Welt vergrößert. Da die Menschheit dieser Verantwortung
anscheinend nicht gewachsen ist, steigt die Verunsicherung. Weil
utopisches Gedankengut das Risiko birgt, an der Realität zu scheitern
und totalitären Kräften Bahn zu brechen, ist bei den negativen
Utopien der Gegenstand der Sozialkritik ausgewechselt: an die Stelle
der Ausbeutungsmechanismen der realen Gesellschaften treten die des
utopischen Gemeinwesens selbst.
Renaissance der Utopien?
Die 1949 publizierte Dystopie „1984“ von George Orwell, der Zeit
seines Lebens Verfechter früh-sozialistischer Ideale war, zählt nicht
nur zu den meistgelesenen, sondern auch zu den am kontroversesten
diskutierten Büchern der Weltliteratur. Eines der zentralen Anliegen
Orwells ist es, zu zeigen, wie ausgehend von der politischen und
sozialen Weltlage zur Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts eine
post-totalitäre Schreckensherrschaft weltweit die Macht ergreift. Im
Anschluss an James Burnham sieht Orwell im modernen Totalitarismus,
verkörpert in Form des oligarchischen oder bürokratischen
Kollektivismus, eine weltumspannende Gefahr. Es ist nicht zu leugnen,
dass eine tiefe Desillusionierung hinsichtlich der Realisierbarkeit
des utopischen Sozialismus Niederschlag in diesem letzten Werk
Orwells gefunden hat. Ebenso wie der Nationalsozialismus stellte das
sowjetische Regime nach dem Scheitern des bolschewistischen
Experiments ein historisches Vorbild für die in „1984“ geschilderte,
post-totalitäre Schrecksherrschaft dar. Aus zentralen Passagen des
Romans spricht Orwells Enttäuschung hinsichtlich des real
existierenden Sozialismus in der Sowjetunion. Durch die
bolschewistische Oktoberrevolution 1917 war letztendlich doch kein
wirklicher Wandel der gesellschaftlichen Struktur herbeigeführt
worden. James Burnham, dessen 1941 erschienenes Buch „Das Regime der
Manager“ Orwell nachhaltig beeinflusste, beschrieb die Verhältnisse
wie folgt: „Von den drei entscheidenden Merkmalen der sozialistischen
Gesellschaft – Klassenlosigkeit, Freiheit und Internationalität – ist
Russland heute unermesslich viel weiter entfernt als während der
ersten Jahre der Revolution.“ In „1984“ übernimmt Orwell Burnhams
Hauptthese, dass den kranken Kapitalismus nicht der utopische
Sozialismus beerben werde, sondern eine neue, auf Kollektiveigentum
basierende Ausbeutergesellschaft technokratischer Manager. In der
Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland waren
Vorformen dieser neuen Gesellschaftsordnung zu erkennen.
Orwell nennt in seinem Werk explizit Gründe für den dialektischen
Umschwung von den klassischen Sozialutopien zu den, nach den
Zwanziger Jahren dominierenden, negativen oder schwarzen Utopien, in
deren Tradition er seinen Roman „1984“ sah. Betrachtet man die
Evolution von Mensch und Gesellschaft, so zeigt sich, dass sich
Geschichte als Geschichte von Kämpfen um Macht konstituiert. „Von
Anbeginn der geschichtlichen Überlieferungen (…) gab es auf der Welt
drei Arten von Menschen: die Oberen, die Mittleren und die Unteren
(…) die Grundstruktur hat sich nie gewandelt.“ Stets versuchten die
Oberen ihren Machtanspruch und damit die Ungleichheit der Menschen
festzuschreiben, während „die Mitte unter dem Banner der Gleichheit“
und durch Mobilisierung der Unterschicht Revolutionen führte. Sobald
allerdings die alten Machthaber gestürzt waren, schwangen sich die
ehemals so egalitär gesonnnen Mittelgruppen selbst zur
Herrschaftselite auf und errichteten eine neue Tyrannei, um ihre
Position zu sichern. Auf Grund des technischen Fortschritts war seit
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen
faktisch möglich geworden. Obwohl das utopische Ideal eines
„irdischen Paradieses“ greifbar nah schien, wurde es in der
post-revolutionären Phase nicht realisiert, sondern diskreditiert.
Orwell schildert wie der emanzipatorische Anspruch der Revolutionäre
in sein Gegenteil verkehrt wird und führt uns auf abschreckende Art
vor Augen wie die ganze Erde das Scheitern utopischer Ideale bitter
büssen muss. Dies gilt in der politischen Utopienforschung als eine
der entscheidenden Ursachen für den Umschlag zur Dominanz negativer
Utopien. Für wahr keine guten Aussichten für positive Visionen,
politischen Aktivismus und Idealismus, die so manchen revolutionären
Funken im Keime ersticken. Für den Zeitgeist der Postmoderne ist vor
allem die fundamentale Kritik an Totalauslegungen der Geschichte, auf
Basis derer die Gesellschaft als Ganzes rational gestalten werden
soll, charakteristisch. Die „großen Erzählungen“, werden auf Grund
der desaströsen Konsequenzen ihres blinden Fortschrittsglaubens
abgelehnt. Man plädiert für Piecemeal-engineering anstelle des
utopischen Holismus.
Nachdem das Zwanzigste Jahrhundert uns mit den katastrophalen
Auswirkungen mythischer, religiöser oder ideologischer Heilslehren
konfrontierte, begreift man utopische Entwürfe heute eher als
Zukunftsszenarien, in denen sich die Konsequenzen bestimmter
Annahmen, Lösungsstrategien oder Prinzipien in der Imagination
durchspielen lassen. Im philosophischen und soziopolitischen Diskurs
ermöglichen sie Austausch und Verständigung einer Gesellschaft über
ihre eigenen Zielvorstellungen, sowie ein Abwägen der Kosten
gegenüber dem Nutzen. Auf utopische Vorstellungen gänzlich zu
verzichten ist dem Einzelnen kaum möglich und birgt
gesamtgesellschaftlich betrachtet, die Gefahr, sich den gegenwärtigen
Entwicklungstrends und den darin wirksamen Sachzwängen mehr oder
weniger bedingungslos auszuliefern. Herbert Marcuse, der in seiner
kritischen Analyse des „eindimensionalen Menschen“ die politische und
geistige Gleichschaltung in der fortgeschrittenen industriellen
Zivilisation als demokratische Unfreiheit kritisierte, hoffte auf die
utopischen „Tendenzen in Theorie und Praxis, die in einer gegebenen
Gesellschaft über das etablierte Universum von Sprechen und Handeln
in Richtung auf seine geschichtlichen Alternativen ‚hinausschießen’“.