Zunächst einmal ist die Datenlage schlicht unklar, um mit Sicherheit sagen zu können, wie viel Schaden oder Nutzen die Maßnahmen angerichtet oder gebracht haben. Genauso wenig ist klar, wie gefährlich der Virus letztendlich wirklich ist. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob es eine langfristige Immunisierung möglich ist. Sicher, es gibt bereits zahlreiche Hinweise und wahrscheinlich ist am Ende an allem etwas dran, aber der einzige Fakt ist und bleibt bis jetzt: Wir wissen es nicht! Wir werden sicherlich noch viel Wissen aus dieser Krise generieren können, aber momentan wissen wir es einfach nicht. Jeder, der etwas anderes behauptet (und sagt die anderen sind alle blöd), macht sich selbst etwas vor.
Vor langer Zeit formulierte ein gewisser Sokrates ein Paradox, welches besagt, dass er nur wisse, dass er nix wisse. Leider fällt es dem Menschen unglaublich schwer, Unwissenheit zu akzeptieren. Für den Menschen gleicht das einem Zustand ohnmächtiger Hilflosigkeit, also sucht er nach Datenhäppchen und Wissensbröckchen, um wenigstens eine Illusion von Kontrolle zu erhalten. Auch die übertriebene Wahrnehmung von Gefahr ist eine Form der Kontrolle: gefühlte Sicherheit durch inszenierte Angst. Dabei ist es völlig egal, ob die jeweilige Angst zur Vermittlung der Illusion von Kontrolle jetzt vor Virus oder Überwachungsstaat gewählt wird, der emotionale Zweck wird von beiden erfüllt. Eine andere Form der Kontrolle sind natürlich Ärger und Wut, meist getarnt als rechtschaffene Empörung auf diejenigen, die sich die jeweils andere Angst zur Kontrolle ausgesucht haben. Dann werden aus Maßnahmenbefürwortern schnell obrigkeitshörige Mitverschwörer zur totalen Überwachung und der totalen Zwangsimpfung, während aus Maßnahmengegnern schnell gefühlskalte, marktradikale Eugeniker werden. Erst durch diese Übertreibung und Verteufelung des Gegners wird die Empörung rechtschaffen genug, um darüber hinweg zu täuschen, dass die inszenierte Empörung und die inszenierte Angst lediglich Abwehrmechanismen sind, um nicht mit dem durch Ungewissheit ausgelösten Gefühls der Hilflosigkeit konfrontiert zu sein. Dieses Gefühl steckt in jedem von uns ganz tief drin, das geht auf frühkindliche Erfahrungen zurück, die mit dem hier und jetzt eigentlich nichts mehr zu tun haben.
Dabei möchte ich ganz klar sagen: jede Gruppe hat mit ihren Bedenken vollkommen recht. Es ist in der Tat völlig kalt und herzlos, Alte und Kranke wegsterben zu lassen, nur damit das Festival der Egos im Konsum und Profitstreben weitergehen kann. Es ist aber genauso kalt und herzlos, Kinder in ihrer Entwicklung zu hemmen (oder gar zu traumatisieren, je nach häuslicher Situation), nur um ein paar Alte und Kranke zu retten. Die Sorge des totalen Überwachungsstaates ist ebenfalls berechtigt, aber längst nicht erst seit oder durch Corona, sondern eigentlich seit dem Siegeszug von Werbung und Konsum, insbesondere in digitalen Zeiten. Es ist also vollkommen ok, Bedenken zu haben, nur sollte man sich dabei gewahr sein, ob und ab wann diese einen ganz anderen, rein persönlichen Zweck erfüllen. Ohne diese notwendige Achtsamkeit sich und seinen Gefühlen gegenüber sind klare Gedanken kaum möglich, und alles verkommt zu einer Inszenierung geschlechtsreifer Kinder, die vehement versuchen, erwachsen zu sein.
Diese Mechanismen lassen sich doch nicht erst seit Corona beobachten, sondern sie sind allgegenwärtig. Die Abspaltung von Gefühlen, meist Gefühlen der Hilflosigkeit, und ihre Ersetzung durch inszenierte Gefühle im "Außen" ist genau die Klaviatur, auf der die Propagandisten dieser Welt virtuos spielen können. Dabei decken die inszenierte Gefühle die gesamte Bandbreite echter Gefühle ab: inszenierte Freude auf der Schlagerparty und im Stadion, inszenierte Angst vor Überwachungsstaat oder Keimen am Klorand, inszenierte Schuld wegen Klima und Hunger, oder inszenierte Scham als sexuelle Identitätskrise, und immer eine ganze Packung inszenierte Empörung über jene, die die Frechheit haben, einem den Spiegel der eigenen Inszenierung vorzuhalten, indem sie sich anmaßen, einfach eine andere Inszenierung zu wählen (die Schweine!).
Wir halten uns ja allgemein für schlau, für denkend (homo sapiens), dabei sind wir viel mehr von unseren Emotionen bestimmt und diese sind so einfach wie simpel. Sie werden erst dann schwierig, wenn wir ernsthaft glauben, wir könnten einen Teil davon einfach ausblenden oder ersetzen. Hier beginnen die Komplikationen und intellektuelle Verwurstung, um den eigenen Trick als völlig logisch darzustellen. Erkennt man diesen Mechanismus einmal und beginnt, diesen nach und nach aufzulösen, ist das unglaublich befreiend. Genauso befreiend wie die Erkenntnis und Akzeptanz der eigenen Unwissenheit, denn erst dann wird es möglich, zwei oder mehr scheinbar gegensätzliche Perspektiven gleichzeitig zu haben, zwischen ihnen zu wechseln, und sie gegenseitig abzuwägen, stets verbunden mit Achtsamkeit gegenüber der emotionalen Ladung, die mit jeder Perspektive einhergeht. Da kann man noch richtig was lernen!
Persönlich habe ich den Eindruck, dass die emotionale Dissoziation im gesellschaftlichen Diskurs, dieser Abspaltungseffekt sich durch (anti-)soziale Medien noch deutlich verstärkt hat, weil die Menschen dadurch noch mehr in ihrer eigenen emotionalen Echokammer feststecken als zuvor schon. Jedenfalls, wer sich wirklich vor Viren, vor Überwachung, vor Zwangsimpfung, vor marktradikalem Profitstreben und seinen Folgen schützen möchte, der sollte sich davon befreien, sich selbst emotional derart instrumentalisieren zu lassen, einfach indem er aufhört, seine Emotionen selbst so derart zu instrumentalisieren. Hans-Joachim Maaz nennt das "innere Demokratie", was ich ein bisschen kitschig finde, aber ich verstehe, was er damit meint. Die Folge ist eine radikale Akzeptanz dessen, was da ist. Das ist ein aktiver, andauernder Prozess, der nie aufhört.
Jedenfalls, die Diskussion (online) dreht sich im Kreis, weil kaum einer frei ist von seiner eigenen Instrumentalisierung. Übrigens, neben der Gewissheit unserer Unwissenheit bleibt uns noch eine andere Gewissheit, auf die einst der große amerikanische Philosoph Jim Morrison hingewiesen hat: Keiner kommt hier lebend raus!
Ich persönlich sehe die Lektion, die wir aus Corona lernen können, vor allem darin, das Entschleunigung möglich und notwendig ist. Das liegt aber bei jedem selbst.