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  • Karl-Katja Krach

528 Beiträge seit 09.07.2019

Re: Die rechte Cancel Culture bei tp

Ich kann nachvollziehen, dass gesellschaftliche Realitäten im islamofaschistischen Spektrum unter Linksliberalen und Linken zu wenig diskutiert wurden, was sich ja auch bei antisemitischen antiimperialistischen Hamas-Freunden zeigt (wobei ich das aus meinem linken (linksradikalen) Umfeld nicht kenne.
Auch gewisse Schwierigkeiten bei der Integration von Männern aus weitestgehend patriarchalen Kulturen wurden teilweise etwas blauäugig ignoriert.

Bei dem Wort "Parallelwelt" sollten Linke und Linksliberale dann aber doch vorsichtig sein. Das ist unmittelbar mit der Leitkulturdebatte verknüpfte Negativdefinition, die ähnlich inhaltsleer ist wie die Extremismusdefinition. Ich halte es für einen Irrglauben, dass sich Rechte bekämpfen lassen, indem man ihre Begriffe übernimmt.

Es ist doch z.B. nicht an sich das Problem, wenn Menschen eine Friedenrichter:in aufsuchen, anstatt vor ein staatliches Gericht zu ziehen. Das gibt es in der bürgerlichen Kultur auch und Autonome versuchen auch, Probleme nicht vor Gericht, sondern im Dialog zu klären.

Warum sollen Muslime nicht auch gewisse Angelegenheiten von einem religiösen Friedenrichter klären lassen, solange alle Beteiligten damit einverstanden sind. Problematisch ist doch erst, dass das praktisch oft mit einem sozialen Zwang verbunden ist und die Freiheit des Individuums nicht respektiert wird. Das ist aber auch bei den Zeugen Jehovas der Fall, bei Evangelikalen, fundamentalistischen Katholiken oder Orthodoxen oder bei Scientology. Oder bei den "Grauen Wölfen" in der CDU.
Das Verhältnis von Staat und Religion ist hier generell das Problem und CDU und SPD wälzen die Verantwortung für strukturelle Missstände gerade mit dem Verbot religiöser Zeichen und von Tätowierungen für Beamt:innen auf neoliberal-konservative Art und Weise auf die Individuen ab. Jetzt hängt in einer bayrischen Amtstube, einem Gericht oder einer Schule ein Kreuz und Kippa oder Kopftuch dürfen nicht getragen werden. Christliche Beamt:innen können sich damit bestimmt damit anfreunden, unter diesen Bedingungen auf das Tragen eines Kreuzes zu verzichten.

Doch zurück zum muslimischen Friedensrichter: Da geht es ja nicht darum, dass manche Freundschaften durch den Gang vor Gericht zerstört werden und dass sich politische Differenzen auftun. Sondern darum, dass insbesondere Frauen aus der Familie ausgeschlossen werden und Gewalt gegen sie legitimiert wird.

Also geht es um Gewalt gegen Frauen und das ist auch in der Mehrheitsgesellschaft ein Problem. Bis zum 9. Mai gab es in diesem Jahr schon 67 Frauenmorde (Versuche nicht mitgezählt).
Es muss auch nicht nur muslimischen Jungen erklärt werden, was sexuelle Selbstbestimmung ist, sondern allen Jungen (und Mädchen selbstverständlich auch). Frauen sind in linken Szenen ja auch nicht gegen sexuelle Übergriffe gefeit (und wie ich selbst erleben musste, Männer auch nicht).

Inhaltlich gibt es auch ein Problem, wenn Körperverletzung mit Geldzahlungen kompensiert werden, da sich Wohlhabende dadurch von Strafe freikaufen können. Das Prinzip gibt es aber auch im BGB. Bei Körperverletzung, beim Falschparken oder bei der "Sozialprognose". Auch wiederholtes Bahnfahren ohne Ticket bedeutet für Arme oft Knast.

Auch bei der Abwertung von Andersgläubigen gilt: Wenn Schüler in bayrischen Schulen sagen, sie seien konfessionslos, ruft das oft mehr Entsetzen hervor, als wenn sie sagen, sie seien Muslime. Andersherum gibt es da allerdings auch noch einiges zu lernen.

Also zusammenfassend: Solche Begriffe aufzugreifen, wenn sie fallen, ist richtig, aber sie sollten nicht bejaht werden, sondern aufgelöst: Eine "Parallelwelt" ist nicht "das Problem". Die Probleme sind die Unterdrückung von Frauen, die Abwertung von Andersgläubigen, das Verhältnis von Staat und Kirche und eine Rechtsauffassung, die Betuchte und deren Kinder privilegiert etc. Und außerdem der ideologische Abschluss gegen jede Kritik, vor dem gerade Liberale auch nicht gefeit sind.

Bei "Bildungsferne" geht es linker Theorie und Praxis nicht um "Bildungschancen" (die Rede von der "Chance" legitimiert geradezu, dass das Recht auf Bildung für viele uneingelöst bleibt). Es geht um die Abschaffung des dreistufigen Schulsystems, Inklusion, darum, dass Bildung nicht einfach nur Ausbildung bedeutet, um die Angliederung der Universitäten an die kapitalistischen Unternehmen, um die Bildungsferne in der Volks- und Betriebswirtschaftslehre ("Lehre" wie in "Ausbildung")...

Ähnliches bei "Heimat". Da geht es Linken um Fragen des guten Miteinanders, darum, wie ein gutes Leben aussehen soll, um zwischenmenschliche Solidarität und um ein lebensbejahendes architektonisches Umfeld etc. Wenn es jemandem aber auf dem Dorf nicht gefällt, weil da zu wenig los ist, macht ihn das noch längst nicht "entwurzelt" oder zum "heimatlosen Gesellen". Menschen sind schließlich keine Pflanzen und Nomaden haben auch zumindest ein moralisches Recht auf eine nomadische Lebensweise.

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