Also, ich versuche es mal:
Chomsky hat ja auch so einen Aufruf gegen Cancel Culture unterschrieben. Ich denke, es ist richtig, wenn ich ihn so verstehe, dass kapitalistische Macht- und Herrschaftsprozesse zwar eine Diskussion über Rassismus, Sexismus und Klassismus in der Sprache zulassen, aber nicht über Rassismus, Sexismus und Klassenkampf (von oben) in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. Deswegen arbeitet sich linksliberale und "linke" (neo-)liberale Identitätspolitik an der Diskriminierungsfreiheit von Sprache ab, während linke Kritik an ihr durch Gleichsetzung mit rechter "Kritik" vom Diskurs ausgeschlossen wird.
Ich sehe es aber so, dass auch das Aufbegehren gegen die "Cancel Culture" durchaus dem Taktstab der Herrschaft folgt, weil es eben keine materialistische Identitätspolitik ist, sondern nur ein Aufbegehren in den Bahnen des Erlaubten. Mit kaum etwas lässt sich so viel mediale Aufmerksamkeit erzielen wie mit dem inszenierten Tabubruch und der Empörung über die Empörung, deren Vermarktbarkeit bestens ist.
Das Wort "Identitätspolitik" wurde von marxistischen Schwarzen erfunden, die davon ausgingen, dass, wer als Schwarze oder Schwarzer diskriminiert wird, sich auch als Schwarze oder Schwarzer wehren muss. Die Arbeiterbewegung hat ja auch nicht deswegen Erfolge erzielt, weil sie mit dem Slogan "Wir sind auch Menschen" losgezogen ist, sondern weil es eine Arbeiterkultur gab, mit Arbeitersportvereinen, Arbeiterbühnen, Arbeiterkneipen, Arbeitersamariterbund, Volkssolidarität und enger Gewerkschaftsbindung. Die Arbeiter des 19. Jahrhunderts hätten sich nicht so bereitwillig zu "Arbeitnehmern" degradieren lassen, wie die Arbeiter in der Bundesrepublik.
Aus einer antirassistischen materialistischen Sicht sind Schwarze (insbesondere Schwarze Frauen) eine Klasse in der Klasse (in der Klasse). Sie werden statistisch am meisten ausgebeutet und machen die am wenigsten angesehenen Arbeiten. Davon profitiert auch eine vorrangig Weiße Arbeiteraristokratie (mit hohen Löhnen, relativ festen Jobs und einem Habitus, der für bessere Chancen in der Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen sorgt) und deswegen ist eine Schwarze materialistische Identitätspolitik auch nötig. Schließlich ist der Aufstieg der Rechten untrennbar mit den Abstiegsängsten dieser Mittelschicht verbunden.
Nicht über jedes Stöckchen zu springen, das "Tabubrecher" hinhalten und statt dessen theoretisch und praktisch die emanzipatorischen Kämpfe gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus zu verbinden, sehe ich als die richtige Strategie an. Deplatforming kann da ein Mittel sein (nicht jedem "Tabubrecher" ein Forum zu geben), sollte aber nicht übertrieben werden, um nicht reflexartig Kritik zu delegitimieren.