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  • Ruth Berger

42 Beiträge seit 28.06.2012

Re: Ziemlich oberflächliches Tamtam für einen philosophischen Bestsellerautor

"Dabei ist die Unantastbarkeit von Grenzen oder Menschenwürde ... ein absoluter Wert, der mit Interessenausgleich gar nichts zu tun hat, sondern mit den Grundlagen von Antitotalitarismus."

Zum Schwammbegriff Menschenwürde nur so viel: Grüne Minister haben regelmäßig mit Leuten zusammengearbeitet, die UN-Menschenrechte missachten (UCK, Golfstaaten, derzeit auch die Ukraine in ihrem Umgang mit wehrtauglichen Männern). Die Anerkennung von Individualrechten und Totalitarismus stehen aber immerhin tatsächlich in einem (negativen) Zusammenhang.
Der Wunsch, die Grenzen meines Nachbarstaates anzutasten, um mir Teile von dessen Territorium einzuverleiben, steht dagegen in keinem Kausal- oder korrelativem Zusammenhang mit Totalitarismus. Staaten jeglicher Staatsform haben Territorialansprüche an Nachbarstaaten gestellt oder diese überfallen. Übliche moralische Begründungen in Zeiten der Demokratie waren "Ethnie X lebt dort und wird dort unterdrückt", "historisch gesehen gehört die Gegend zu uns" oder auch "wir brauchen dort eine Sicherheitszone, um uns vor dem aggressiven Nachbarn besser schützen zu können". In den prädemokratischen Zeiten vor dem 19. Jahrhundert wollten Fürsten einfach ihre Steuerbasis verbessern. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan etwa hat nichts, aber gar nichts mit Totalitarismus zu tun, ebenso wenig wie der zwischen Israel und den Palästinensern. Grenzveränderungen durch Separatismus, also den Wunsch, Staat X zu verkleinern, um auf dessen Territorium einen zusätzlichen Staat zu gründen, ist eine Variante der Nichtrespektierung von Grenzen.

Nach 1945 war man in Europa nach anderthalb Jahrhunderten nationalistischer Kriege zu dem Schluss gekommen, dass es keine Grenzverschiebungen zumindest an staatlichen Grenzen mehr geben soll, damit es nie wieder Krieg gibt. Direkt nach dem Schwächeln der Sowjetunion in deren ehemaligen Einflussgebiet hat man aber gleich wieder damit angefangen, zunächst friedlich (die deutsche Wiedervereinigung war eine Grenzveränderung). Aber dabei blieb es nicht, nachdem der Damm einmal gebrochen war, und zwar auf allen Seiten nicht, und der erste klare Völkerrechtsbruch diesbezüglich ging von etablierten Demokratien aus, die jetzt im Kosovo eine Art Protektorat mit Militärbasis (Camp Bondsteel) betreiben.
Setzt man "Unantastbarkeit von Grenzen" als absoluten Wert, wofür dein/Ihr Kommentar plädiert, so gibt es keinen Unterschied zwischen der NATO und Putin-Russland: beide sind das Böse an sich, dass es zu bekämpfen gilt. Damit kommen wir allerdings genauso wenig weiter wie mit der Verteufelung von Interessenausgleich zur Vermeidung von Toten oder eines Krieges als unmoralisch. Dass die Grünen Letzteres jetzt tun, nämlich Interessenausgleich mit Russland verteufeln, das dürfte wohl unbestritten sein.
Ich bin im übrigen sehr für die Unantastbarkeit bestehender Grenzen zur Kriegsvermeidung (das schließt auch Machtblockgrenzen ein). Das bedeutet aber auch, dass man schon geschehenes Unrecht, wie kriegerisch gezogene neue Grenzen oder geschehene Vertreibungen, im Nachhinein bereit sein muss hinzunehmen, um die ganze Spirale nicht wieder von vorn zu beginnen. Man kann gegen den Kosovokrieg gewesen sein, ohne jetzt die Wiederangliederung des Kosovos an Serbien zu fordern, und man kann gegen Putins revanchistische Eroberungen sein, ohne sie komplett wieder rückgängig machen zu wollen.

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