"5. Die Deutschen stehen im Ruf eines guten Charakters, nämlich dem der Ehrlichkeit und Häuslichkeit; Eigenschaften, die eben nicht zum Glänzen geeignet sind. - Der Deutsche fügt sich unter allen civilisirten Völkern am leichtesten und dauerhaftesten der Regierung, unter der er ist, und ist am meisten von Neuerungssucht und Widersetzlichkeit gegen die eingeführte Ordnung entfernt. Sein Charakter ist mit Verstand verbundenes Phlegma, ohne weder über die schon eingeführte zu vernünfteln, noch sich selbst eine auszudenken. Er ist dabei doch der Mann von allen Ländern und Klimaten, wandert leicht aus und ist an sein Vaterland nicht leidenschaftlich gefesselt; wo er aber in fremde Länder als Colonist hinkommt, da schließt er bald mit seinen Landesgenossen eine Art von bürgerlichem Verein, der durch Einheit der Sprache, zum Theil auch der Religion ihn zu einem Völkchen ansiedelt, was unter der höheren Obrigkeit in einer ruhigen, sittlichen Verfassung durch Fleiß, Reinlichkeit und Sparsamkeit vor den Ansitzungen anderer Völker sich vorzüglich auszeichnet. So lautet das Lob, welches selbst Engländer den Deutschen in N.=Amerika geben.
Da Phlegma (im guten Sinn genommen) das Temperament der kalten Überlegung und der Ausdaurung in Verfolgung seines Zwecks, imgleichen des Aushaltens der damit verbundenen Beschwerlichkeiten ist: so kann man von dem Talente seines richtigen Verstandes und seiner tief nachdenkenden Vernunft so viel wie von jedem anderen der größten Cultur fähigen Volk erwarten; das Fach des Witzes und des Künstlergeschmacks ausgenommen, als worin er es vielleicht den Franzosen, Engländern und Italiänern nicht gleich thun möchte. -- Das ist nun seine gute Seite in dem, was durch anhaltenden Fleiß auszurichten ist, und wozu eben nicht Genie*) erfordert wird; welches letztere auch bei weitem nicht von der Nützlichkeit ist, als der mit gesundem Verstandestalent verbundene Fleiß des Deutschen. - Dieses sein Charakter im Umgange ist Bescheidenheit. Er lernt mehr als jedes andere Volk fremde Sprachen, ist (wie Robertson sich ausdrückt) Großhändler in der Gelehrsamkeit und kommt im Felde der Wissenschaften zuerst auf manche Spuren, die nachher von anderen mit Geräusch benutzt werden; er hat keinen Nationalstolz, hängt gleich als Kosmopolit auch nicht an seiner Heimath. In dieser aber ist er gastfreier gegen Fremde, als irgend eine andere Nation (wie Boswell gesteht); disciplinirt seine Kinder zur Sittsamkeit mit Strenge, wie er dann auch seinem Hange zur Ordnung und Regel gemäß sich eher despotisiren, als sich auf Neuerungen (zumal eigenmächtige Reformen in der Regierung) einlassen wird. -- Das ist seine gute Seite.
Seine unvortheilhafte Seite ist sein Hang zum Nachahmen und die geringe Meinung von sich, original sein zu können (was gerade das Gegentheil des trotzigen Engländers ist); vornehmlich aber eine gewisse Methodensucht, sich mit den übrigen Staatsbürgern nicht etwa nach einem Princip der Annäherung zur Gleichheit, sondern nach Stufen des Vorzugs und einer Rangordnung peinlich classificiren zu lassen und in diesem Schema des Ranges, in Erfindung der Titel (vom Edlen und Hochedlen, Wohl= und Hochwohl=, auch Hochgeboren) unerschöpflich und so aus bloßer Pedanterei knechtisch zu sein; welches alles freilich wohl der Form der Reichsverfassung Deutschlands zugerechnet werden mag; dabei aber sich die Bemerkung nicht bergen läßt, daß doch das Entstehen dieser pedantischen Form selber aus dem Geiste der Nation und dem natürlichen Hange des Deutschen hervorgehe: zwischen dem, der herrschen, bis zu dem, der gehorchen soll, eine Leiter anzulegen, woran jede Sprosse mit dem Grade des Ansehens bezeichnet wird, der ihr gebührt, und der, welcher kein Gewerbe, dabei aber auch keinen Titel hat, wie es heißt, Nichts ist; welches denn dem Staate, der diesen ertheilt, freilich was einbringt, aber auch, ohne hierauf zu sehen, bei Unterthanen Ansprüche, anderer Wichtigkeit in der Meinung zu begrenzen, erregt, welches andern Völkern lächerlich vorkommen muß und in der That als Peinlichkeit und Bedürfniß der methodischen Eintheilung, um ein Ganzes unter einen Begriff zu fassen, die Beschränkung des angebornen Talents verräth."
aus
I. Kant, "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", 2. Teil, S. 317ff
https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/aa07/317.html