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  • Stephan Schleim

mehr als 1000 Beiträge seit 27.01.2005

Selbstverantwortung & so

Nützy schrieb am 24.12.2019 09:10:

Ich halte die Gleichsetzung: Soziale Konstruktion = Willkür = Beliebig Festzulegen.
Für einen gedanklichen Fehlschluss. Die Tatsache, dass etwas eine Konstruktion ist, impliziert keine beliebigen Änderungsmöglichkeiten.

Hmm, dass die Festsetzung beliebig ist, wo hätte ich das behauptet?

Ihr Hausbeispiel finde ich zum Vergleich gut, denn tatsächlich sind Häuser auch soziale Konstrukte, können aber nicht beliebig gebaut werden (jedenfalls ohne einzustürzen); dafür sorgen Eigenschaften des Bodens, der Materialien, die Schwerkraft, der Wind und so weiter.

Der Gesetzgeber könnte (rein formal) heute das Tragen von Armbanduhren oder Zucker verbieten (in GB gibt es ja schon eine Zuckersteuer auf Softdrinks). Dass es bestimmte Eigenschaften gibt, die die Regulierung der Substanzen beeinflussen, das sehe ich so wie Sie.

Da könnte man jetzt ins Detail gehen – verweise ich auf Zeitgründen aber auf die Vorschläge von z.B. David Nutt, die meiner Erinnerung nach auch im Text verlinkt sind.

Wer soziale Probleme hat, wird in der Regel aber eben keine guten Freundschaften unterhalten. Das ist ungefähr wie bei einer Person mit starker Angststörung. Da hilft "sei Mutig"! auch nicht.

Worum ging es hier eigentlich? Mein Punkt war doch bloß: Manche Leute gehen mit ihren Problemen um, indem sie sich Hilfe von anderen Menschen suchen (sei es ein Arzt, eine Psychotherapeutin, Freunde, Familie, ein Seelsorger, Nachbar) oder aber auch Substanzen konsumieren, die es ihnen ermöglichen, einen bestimmten psychischen Zustand auszuhalten oder zu verdrängen.

Wir sind alle einer Gen-Lotterie ausgeliefert, deren Ausgang wir nicht selbst beeinflussen können.

Wie könnten wir? Vor der Entstehung kann ein Mensch nicht handeln - allein der Gedanke ist irgendwie abgedreht.

Ja – damit komme ich aber auf den Unterschied, um den es mir geht: Du sagtest, wir seien von Geburt an alle unterschiedlich, wie könne es da gleiche Chancen geben?!

Jetzt erwidere ich, dass das schlicht Naturgesetzlichkeit ist, dass wir alle der Gen-Lotterie vor unserer Geburt ausgeliefert sind. Daran können wir nichts – oder wenig, wenn wir etwa an Epigenetik denken – ändern…

…darum ist es aber doch umso wichtiger, sich über eine Gesellschaft Gedanken zu machen, in der die Chancen gerechter verteilt sind. Oder um es anders zu formulieren: Die Gene können wir nicht so leicht ändern; die Gesellschaft schon.

Genau, darum sollte ein sozialer Rechtsstaat hier ausgleichen und diejenigen Menschen fördern, die schlechtere Startbedingungen haben.

Auf wessen Kosten?

Der Staat hat Einnahmen durch Steuern. Wenn wir jetzt auch noch Steuerpolitik diskutieren, wird mir das zu groß.

Es gehört aber nach meinem Verständnis nach zu den zentralen Aufgaben eines sozialen demokratischen Rechtsstaats (siehe Grundgesetz der BRD), hinreichende Mittel zur Verfügung zu stellen, damit Menschen, mit unterschiedlichen Genen (s.o.) und in unterschiedliche Umgebungen geboren, wofür sie selbst gar nichts können, zumindest ähnliche Chancen haben.

Das ist nach meinem Eindruck nicht mit dem Sozialstaatsabbau vereinbar, wie ihn vor allem SPD und CDU/CSU seit rund zwanzig Jahren betreiben.

Das Problem mit dieser Aussage ist, dass damit Verantwortung weg von den Individuen, hin zum "sozialen Rechtsstaat" delegiert wird. Was ist aber, wenn ich dem deutschen Schulsystem grundsätzlich misstraue (ich stehe damit auf der selben Seite wie manche Pädagogen) und die Kinder lieber anders unterrichten will?

Die Diskussion, wie Schulen verbessert werden können oder sollen, führt mir jetzt zu weit vom Thema weg (ich bin übrigens selbst Hochschullehrer).

In der Praxis wird seit rund 20 Jahren aber das Gegenteil immer beliebter: Elitenförderung, während man an der Infrastruktur (einschließlich Bildung) der breiten Massen immer weiter kürzt.

Hier werden zwei Dinge gegeneinder ausgespielt, die aber doch vereinbar sind.

Prinzipiell schon und in der Sache gebe ich dir auch Recht: Konkret ist es aber so, dass man zurzeit viel in Elitenförderung steckt und die breite Masse (etwa der Schulen) verwahrlosen lässt. Auch darüber schrieb ich vor ca. zwei Wochen in dem PISA-Artikel.

Da PISA Mittelwerte erhebt und Deutschland nicht – oder jedenfalls nicht so dreist – bei der Auswahl der Schüler schummelt, schneidet es eben auch nur mittelmäßig ab. Bessere Förderung der breiten Masse bezeichnete ich darum als "Bergen des verborgenen Golds" Deutschlands. So könnte die BRD bei PISA sogar auf Platz 1 kommen. (Dass das nicht das höchste Bildungsziel sein sollte, steht auf einem anderen Blatt.)

LOL, wie entstehen denn Ihre Vorlieben, Wünsche, Überzeugungen? Sie sind doch wohl nicht als Einsiedler auf einer einsamen Insel aufgewachsen.

Wenn man eine kausale Story erzählt, dann kann man immer erklären "X macht Y, weil Z". Das ist klar.

Das ist für mich aber eine wesentliche Frage, ohne die man nicht sinnvoll über Autonomie diskutieren kann: Jeder soll für sich selbst entscheiden – aber woher kommen denn unsere Vorlieben, Wünsche, Überzeugungen, auf deren Grundlage wir entscheiden?

Wie weit man sich von anderen Menschen beeinflussen lässt, in welche Richtung und zu welchen Preis, das ist aber ein Stück weit Selbstverantwortung.

Stimmt.

Und hierzu sollte es von mir in Kürze auch einen passenden Artikel hier auf Telepolis geben (im Titel etwas mit "Café am Rande der Welt").

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